Ich stand am heutigen Sonntag wie „normal“ etwa um 10:00 Uhr auf. In der Küche liegen Gläser, Flaschen, Essensreste und Müll von einer Feier herum, die mein Sohn anlässlich seines 18. Geburtstages gegeben hat. Die Familie musste an diesem Abend das Haus verlassen und woanders übernachten. Ich harrte aber stur aus und verkroch mich in mein kleines Arbeitszimmer über der Garage mit einem eigenen Eingang, eine Art Anbau. Niemand weiß, was der Architekt sich bei dieser Konstruktion gedacht hatte. Aber Gesternabend hatte dieser „Abstellraum“, der als Redaktion und Druckerei der „Barge-Sabz“ Weltberühmtheit erlangt hat, auch die Funktion einer unverzichtbaren Beobachtungszentrale. Etwas erinnerte mich an diese hässlichen Häuschen entlang der Demarkationslinie, noch vor 15 Jahren in Deutschland.

Auch diese Zentrale ist  zwar gegen gewaltigen Widerstand eingerichtet, dient aber wirklich dem Wohl des Partyvolkes!  Es ist das Ergebnis eines hart erkämpften Kompromisses: ich bleibe da, wo ich bin, und die Anderen dort, wo sie sind, also eine Art friedliche Koexistenz in Form eines Generationenvertrags. Ich übe also meine Fürsorgepflicht  von meinem Verbannungsort aus. Zwei Nymphensittiche und meine Katze (sie vertragen sich besser, als manche Menschen) leisten mir Gesellschaft und das Internet gibt mir das Gefühl der uneingeschränkten globalen Informationsfreiheit. Von drei Seiten aus habe ich heimlich die Lage unter Kontrolle: ich hatte früher gedacht, daß nur wir Orientaler  uns bei Abschied so schwer voneinander trennen können. Manche Abschied wir bei uns zu einer zweiten stehenden Sitzung, und schuld daran sind natürlich wieder die Frauen, die das nächste Treffen in aller Ruhe besprechen und vielleicht ihren neuen Mantel präsentieren wollen!  Aber auch die Gäste meines Sohnes waren nicht besser. Manchmal standen sie minutenlang auf der Straße, plauderten, rauchten und manchmal auch brüllten, so ähnlich wie Fußballfans es tun, und das um 2:00 Uhr nachts. Da wir ja eine ordentliche Familie sind (wird hatten alle Nachbarn über den Ausnahmezustand), sorgte ich von meinem Beobachtungsposten übers Handy dafür, daß mein Sohn seine Gäste zügig zu ihren Autos bringt. Niemand konnte mich sehen, aber die Befehle wurden ordentlich ausgeführt.

Zurück in die chaotische Küche von heute. Auf dem Tisch liegen alles Mögliche herum. Darunter sind auch Glückwunschkarten. Es ist eine schwere Entscheidung: darf ich diese lesen, oder nicht? Meine Mutter hatte mir immer beigebracht, daß fremde Brieftaschen und Briefe heilig und unantastbar sind. Aber was ist, wenn manches so frei herumliegt? Ich sage mir: gut, einmal ist kein Mal; es ist eben ein geistiger Seitensprung und ich kann hinterher beichten! Ohnehin wird mein Sohn durch Barge Sabz davon erfahren. Ich überfliege die Texte, und lerne viel , so daß diese Sünde doch einen Sinn bekommt. Das meist verwendete Wort dieser Glückwünsche ist die „Freiheit“ in verschiedenen Variationen: „genieße Deine Freiheit“, „jetzt bist Du Dein eigener Herr“, „Mache nun, was Du willst, bleib aber artig“ … Hat er gerade seine Entlassungsurkunde aus der Santafu ausgehändigt bekommen, daß man sich so mit ihm freut?  Diese Briefe könnten doch an mich gerichtet sein, der jetzt die Nacht bis zum Weggang der letzten Gäste in seiner „Zelle“ ausgehalten und dort erst um 4:00 Uhr auf einer Matratze eingeschlafen ist. Das Abkommen wurde strengt eingehalten. Von welcher „Freiheit“ ist hier Rede? Was wird sich  von heute auf morgen ändern? Er ist von uns frei und pflichtbewusst erzogen werden. Wir sind stolz auf ihn. Er ist korrekt und sensibel, herzlich und hilfsbreit.  Ich habe seine Ohren seit Jahren mit dem Spruch voll gestopft, daß Freiheit und Verantwortung, Rechte und Pflichten sich ergänzen.

Meine philosophische Wissbegierde gibt mir aber keine Ruhe: woher kommt trotzdem dieser „Freiheitsenthusiasmus“ in einer freien Gesellschaft? Es klingt alles nach einem Sieg im antikolonialen Freiheitskampf, und vielleicht hat sich vor fast 60 Jahren die indische Jugend über die errungene Freiheit des Landes wenigen gefreut, als die heutige Jugend der „freien Welt“  bei der Vollendung des 18. Lebensjahres tut.

Ich komme zur Erkenntnis, daß „Freiheit“ mit „Grenzüberschreitung“ (Transzendenz) einhergeht. Sie ist kein Zustand, sondern ein Prozeß; man kann sie nicht erreichen, sondern will auch die Gewissheit haben, das Erreichte erhalten und  erweitern zu können. Freiheit ist kein Teich, sondern ein Fluß. Sie ist wie Salzwasser; je mehr man daraus trinkt, desto mehr bekommt man Durst. Es ist falsch zu sagen, „Du hast die Freiheit“, sondern „Du bist frei, Deine Freiheit zu entfalten.“ Auch Diktaturen „geben dem Volk „Freiheiten“, was aber sie nicht gewähren können, ist die Freiheit zur Freiheit, die Selbstbestimmung für den Grad und Art dieser Freiheit; den Absolutherrschern fehlt das Vertrauen in Menschen.

In der Tat war der Freiheitsgedanke vom Anfang an ein komplizierter Begriff: „Die Grenze deiner Unfreiheit ist die Unfreiheit deiner Mitmenschen“ ist wohl eine der Lösungen gewesen. In letzten Jahren gehen Politiker im Westen dazu über, die Sicherheit als Vorraussetzung für die Ausübung des Freiheitsrechts zu definieren. Imamae haben Redefreiheit, solange die Sicherheit nicht gefährdet wird.  Gilt aber dieses Prinzip auch nicht für die Mohammad-Karikaturen? Hat nicht hier die „Pressefreiheit“ die Sicherheit der Welt geschadet?

Zurück zur Familie, von Makrosoziologie zur Mikrosoziologie: was ich heute Nacht erlebte, wäre im Kulturkreis  meiner orientalischen Heimat undenkbar. Es symbolisiert den „Zusammenprall von Kulturen“ innerhalb von Familien vieler orientalischen Einwanderer. In diesen Familien gibt es drei Konfliktherde: Die Eltern stehen unabhängig von Kindern unter einem Kulturschock. Dann gibt es den normalen Generationskonflikt, und schließlich kommt es zu einem Kulturkonflikt mit den heranwachsenden Kindern. Unsere Kinder bekommen ihre Sozialisation und kulturelle Integration außerhalb der Familie. Schulen, Unterrichtsinhalte, Beziehung in Vereinen und Clubs, Vorgänge auf Partys, fremde und nicht bekannte Einflüsse sind nicht unter unserer Kontrolle. In Freundeskreisen bilden sich „Autoritäten“, und es gibt Freunde, die mehr auf unsere Kinder Einfluß haben, als wir es denken können. Im Prinzip müssen ausländische Eltern in Bezug auf ihre Kinder auf viele Werte verzichten, sich einschränken und zähneknierchend auf das universelle Prinz „Du sollst Deine Eltern ehren“ verzichten.

Wissen die deutschen Politiker, die von Migranten mehr Integration erwarten, was in den Familien vor sich geht? Hier findet der eigentliche Integrationskonflikt statt. Gewiß sind diese Probleme auch in deutschen Familien da. Dort wird aber der Konflikt innerhalb einer einzigen Kultur ausgetragen. Diese sind an erster Stelle Generations– und an zweiter Stelle Kulturkonflikte.

Ausländische Eltern haben mit Recht ganz andere Vorstellung von Freiheit und Freizügigkeit. Sehr leicht wird Freiheit aus ihrer Perspektive mit „Zügellosigkeit“ gleichgesetzt. Diese Einstellungen lassen sich nicht über Nacht ändern. Auch in Deutschland galten vor 35 Jahren ganz andere Werte. Wenn man mit einem Mädchen Freundschaft schließen wollte, hieß es: „Erst gehen wir zu meinen Eltern, und dann ins Kino“. Wenn man aber heute der eigenen Tochter sagt, daß man den neuen Freund kennen lernen will, hört man als Antwort: „Wir sind doch nicht im Orient!“ Es sind doch hier keine orientalischen Werte (dort ist ohnehin jeder voreheliche Kontakt verboten), sondern „ältere“ deutsche Werte, die manche Migranten vor 30 oder 40 Jahren gelernt haben, so wie man die deutsche Sprache erlernt hat. Muß man denn ständig neue Rechtschreibregeln lernen und nach der Musik der Zeit tanzen? Sollen die Migranten sich ständig auch dem Wertewandel innerhalb der europäischen Gesellschaft anpassen? Ich glaube nicht, daß es gelingen wird einen gläubigen Muslim von der Richtigkeit der Homoehe zu überzeugen. Auch in Deutschland war vor 20 Jahren so etwas unvorstellbar. Man verlangt von ihnen manchmal die Anpassung an den  neuesten Stand der Entwicklung, an die sich auch viele deutschen Konservative halten. Was man von der ersten Generation erwarten kann, ist die Akzeptanz der Grundwerte der deutschen Verfassung, Einhaltung der Normen und das Erlernen der deutschen Sprache, nicht mehr und nicht weniger.

Die Erziehungsmethoden sind ein weiteres Problem. Ich hatte einmal als Dolmetscher einen Einsatz bei der Polizei: ein minderjähriger afghanischer Junge hatte in einem Kaufhaus ein Nintendo-Spiel geklaut. Der Vater wurde zur Polizei bestellt, und als er von dieser Tat seines Sohnes hörte, gab er im Revier dem Sohn eine Ohrfeige. Nun wurde auf einmal der Kaufhausdiebstahl zweitrangig. Wichtig wurde der Tatbestand der Körperverletzung, und eine Sozialarbeiterin des Amtes für Soziale Dienst musste erscheinen, um festzustellen, ob der Junge heute in ein Jugendheim, oder zu den „gewalttätigen“ Eltern gehen darf. Der Vater sagte, daß er nie seinen Sohn geschlagen hat. Mit dieser Ohrfeige wollte er doch der deutschen Polizei zeigen, was für ein ordnungsbewusster Vater er ist! Waren aber noch vor 30 Jahren in Deutschland solche „Erziehungsmethoden“ nicht an der Tagesordnung. Afghanistan ist  im Vergleich zu Europa mehrere Jahrhunderte zurückgeblieben, will man nicht eine Differenz von 30 Jahren akzeptieren und für normal halten?

Erst wenn die erste Generation ausgestorben ist, werden die Konflikte in nächsten Generationen sich zurechtpendeln. Aus dem heutigen „bikulturellen“ Zustand wird eine harmonische Mischkultur entstehen. Wahrscheinlich wird in der Familie meines Sohnes Persisch überhaupt nicht mehr gesprochen werden. Ob er beim 18. Geburtstag seines Kindes mit dem Rest der Familie das Haus verlässt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall wird er mit seinem Kind wegen „gemeinsamer Sprache und Kultur“ leichter den Konflikt lösen und weniger darunter leiden.

Für den heutigen Nachmittag hat er eine Putzkolonne von Freunden bestellt. Die Wohnung wird wieder sauber, er ist mit dem Ablauf hoch zufrieden, und ich bin dankbar aus diesem Anlaß einen familiensoziologischen Beitrag geschrieben zu haben.  

Hadi Resasade

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