Der interreligiöse Dialog im Spannungsfeld zwischen Wahrheitsanspruch und Identitätsverlust
Die Notwendigkeit des Dialogs mit den in Deutschland lebenden Muslimen mit dem Ziel eines friedlichen Miteinanders und der Integration wird (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht bestritten.
Für Muslime (wie andere Einwanderer aus Ost- und Südeuropa) ist die Religion ein wichtiges Instrument zur Beheimatung und Identitätsfindung in der Fremde geworden (Religion als „portable Heimat„). Man sollte trotz aller Ängste die positiven Seiten dieser Entwicklung sehen: Friedliches Zusammenleben ist nur mit Menschen möglich, die seelisch „ausgeglichen“ sind und sich nicht in einer Sinnkrise befinden. Der ethisch orientierte Glaube dämpft das Aggressionspotenzial und erleichtert die Integration in eine friedliche multikulturelle Gesellschaft.
Oft wurde bei gemeinsamen Treffen zwischen Christen und Muslimen betont, dass gegenseitiger Respekt, Toleranz und Gleichberechtigung (“Dialog auf gleicher Augenhöhe“) wichtige Voraussetzungen für einen gelungenen Dialog sind. Es besteht auch Konsens darüber, dass der Dialog zu einer bilateralen Verständigung, Abbau von Vorurteilen, Versöhnung, Freundschaft und Integration führen soll. Dennoch laufen diese Dialoge trotz guten Willens nicht selten asymmetrisch, asynchron und sind verbesserungsbedürftig.. Es gibt eine Reihe von strukturellen Hindernissen, welche die Verständigung und Dialogbereitschaft verhindern.
1) Das erste Problem liegt im immanenten Wahrheitsanspruch des religiösen Denkens:
Zwei Naturwissenschaftler oder Juristen können in einen Dialog eintreten und im Voraus die Bereitschaft haben, die Meinung der anderen Seite in einem argumentativen Prozess anzunehmen. Ihr Wahrheitsanspruch wird durch sachliche wissenschaftliche Argumente stets relativiert, eingeschränkt und sogar revidiert. Die Akzeptanz der Meinung der anderen Seite erhebt die gemeinsame Erkenntnis auf eine höhere Stufe der Wissenschaftlichkeit. Der “Unterlegene” verliert nicht seine Identität, sondern fühlt sich im Idealfall durch die Diskussion bereichert.
Anders ist es, wenn Vertreter von Religionen, Ideologien oder einer fundamentalistischen Politik in eine Diskussion treten. Hier ist die Zugehörigkeit zu einer Doktrin Teil der Identität der Gesprächsteilnehmer. Christen und Muslime diskutieren mit der Absicht, ihre eigene Identität zu bewahren und ihren Wahrheitsanspruch preis zu geben. Diese liegt im Wesen der Religiosität, deren Kern der “Glaube an das Heilige“ ist. In diesem Bereich des Bewusstseins spielen weniger Wissenschaftlichkeit, Rationalität, Vernunft und logische Schlussfolgerungen die Rolle, sondern die ursprünglichen und genuinsten existentiellen Gefühle (das magisches Viereck aus Angst, Hoffnung, Leid und Liebe) einerseits und Dogmen und unantastbare heilige Gesetze die Hauptrolle andererseits, denn Sinngebung und Ordnungsanspruch bilden den unverzichtbaren Doppelcharakter des religiösen Denkens. Religion hat neben Sinnstiftung die Funktion eines unverzichtbaren Regulators bei zwischenmenschlichem kommunikativem Handeln und die Hinführung des Individuums in eine geordnete soziale Ordnung. Die Zehn Gebote bringen diesen Doppelcharakter zum Ausdruck.
Es stellt sich also prinzipiell die Frage, wozu dennoch interreligiöser Dialog gut sein soll, wenn keine Seite auf den Wahrheitsanspruch und Identitätsverlust verzichten kann. Wie kann die eigene Identität bewahrt, aber auf den Heilexklusivismus verzichtet werden?
Es gibt zwar die goldene Regel, dass viele Wegen zur göttlichen Wahrheit führen, dennoch schlummert im Inneren jedes Dialogpartners die unausgesprochene Überzeugung, dass sein Weg zur Wahrheit der bessere und kürzere ist. Solange diese innere Überzeugung weiterlebt, bleibt jeder Dialog an der Oberfläche. Aber noch richtiger und offener ist die Einstellung, dass jeder religiöser Glaube unvollständig ist. Hans-Jochen Margull als Professor für Religionswissenschaft an der Universität Hamburg (ich hatte die glückliche Gelegenheit Mitte der 70er Jahre als Student zusammen mit dem heute im Iran lebenden islamischen Reformtheologen Mojtahed Shabestari bei seinen islamisch-christlichen Dialogen dabei zu sein) benutzte bereits in den 70er Jahren eine außergewöhnlich prägnante Formulierung: Um in den Dialog einzutreten, muss sich jede Religion ihrer „Unvollkommenheit“ bewusst werden.
Man kann sogar unter allen Religionen verschiedene interne “Lesarten” und “Interpretationen” finden. Aus eigener Erfahrung und Kontakten kann ich sogar behaupten, dass nicht selten die Distanz zwischen zwei Muslimen in der Interpretation des Islams größer ist, als zwischen dem Islam und Christentum. Wir müssen mit dieser „Unvollkommenheit” leben, denn es gibt so viele Glaubensorientierungen, wie es Gläubige gibt.
In religiösen Dialogen kommt es häufig weniger zu einer Begegnung zweier Religionen, als zweier Kulturen.
Auf der christlichen Seite sitzen Personen aus der Kirche, Gesellschaft oder Medien, die man als „säkular, aufgeklärt und tolerant” bezeichnet. Die meisten von ihnen haben eine Universitätsausbildung und kennen sich nicht nur mit der Theologie, sondern auch anderen humanwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere der europäischen aber auch in Philosophie aus. Nicht selten haben sie auch fundierte Kenntnisse über den Islam. Dagegen haben muslimische Gelehrte in der Regel über ihre Theologie hinaus kam Kenntnisse über Humanwissenschaften, moderne Philosophie und das Christentum. Oft sind sie auch über die Entwicklung der modernen Theologie in Europa der letzten 150 Jahre, über Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten, christliche Auslegungen der Bibel, Trinität und Dogmen nicht informiert. Überhaupt hat die islamische Theologie sich trotz intensiver historische Begegnungen mit dem Christentum nicht ernsthaft und sachlich mit dieser Religion befasst, weil man eben von der „absoluten Überlegenheit“ der eigenen Religion als letzte wahre Verkündung überzeugt war und ist. Währed Europäer (auch wenn nicht vorurteilsfrei) sich von Anfang an mit dem Islam beschäftigten: Die erste Koranübersetzung ins Lateinische wurde 1143 gefertigt. Dagegen Wurde die Bibel erst Anfang des 12. Jahrhunderts erst durch Arbeit von Missionaren ins Arabische und Persische übertragen.
Die Christen beziehen sich bei ihren Dialoggesprächen immer wieder auf europäische Errungenschaften der Aufklärung und machen sich diese zu eigen. Sie verteidigen die offene Gesellschaft, den Pluralismus, die Säkularität, Frauenrechte u. ä. Es wird aber dabei eine sehr wichtige historische Asymmetrie vergessen: Diese „abendlich-europäische und aufklärerische” Denk- und Verhaltensweise ist nicht genuin aus dem Christentum, sondern außerhalb der christlichen Kirche entstanden (Entwicklung der Naturwissenschaften, Aufklärung, Verdrängung und Enteignung der Kirche, Französische Revolution, zwei von säkularen Mächten geführte Weltkriege …) Die Kirche musste die Werte der Aufklärung annehmen, um in der modernen Gesellschaft zu überleben. Wenn wir heute ein katholisches Lexikon aus der 50er Jahren in die Hand nehmen, können mühsam Begriffe wie „Menschen- und Frauenrechte“, „Toleranz“ und „Dialog mit Andersdenkenden“ vorfinden. Dagegen betont heute das Christentum bei jeder Gelegenheit seine untrennbare Identität mit diesen werten.
Auf der anderen Seite der Dialogrunden sitzen Muslime häufig als Vertreter einer „Problem-Religion” und stehen unter einem heftigen Rechtfertigungsdruck. Diese müssen sich mit kritischen Themen auseinandersetzen, die durch gesellschaftliche Bedingungen, Tradition und Unterentwicklung entstanden und durch Religion lediglich legitimiert werden. Die Christen prahlen also mit Werten, die außerhalb der Kirche entstanden und machen Muslime für Verhältnisse verantwortlich, die durch Armut und Unterentwicklung und nicht primär durch den Islam bedingt sind. Fragen nach dem „Heiligen Krieg”, „Rechte der Frauen”, die Geltung von „religiösen Gesetzen” (Sharia) werden immer wieder von der christlichen Seite pauschal als zeitlose und untrennbare Bestandteile des heutiges Islam in die Diskussion geworfen, während die Kirche so tut, als hätte sie aus eigenem Antrieb diese Probleme bewältigt. Die Kirche wurde aber nicht freiwillig, sondern unter dem Druck der gesellschaftlichen Entwicklung auf ihre ursprüngliche echte frühchristliche Tradition (Nächstenliebe, Versöhnung, Vergebung, Diakonie, Toleranz und Demut) zurückgewiesen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass auch islamische Fundamentalisten zu den Ursprüngen des Islam (Gewalt als Mittel der Ausbreitung des Glaubens) zurückgehen, obwohl diese „revolutionäre Phase” lange Zeit aus der islamischen Tradition verschwunden und durch kulturelle Werte (Wissenschaft, Philosophie, Mystik, Kunst, Architektur u. a.) ersetzt worden waren.
Es gilt also das Prinzip der „Neutralität des Glaubens“:
Man kann aus jeder Religion alles ableiten kann. Der religiöse Glaube ist von Natur aus wie „Sauerstoff“, von dem Propheten, Mystiker, Wissenschaftler, Politiker, Mörder, Verbrecher und Vergewaltiger gleichsam leben. Glaube kann schaffen und vernichten, lieben und hassen. Aus einer und derselben Heiligen Schrift wurden je nach politisch-gesellschaftlichen Bedingungen im Christentum und Islam die widersprüchlichsten „Lehren“ abgeleitet. Glaube kann eben Berge versetzten und verschieben, lieben und hassen, schaffen und vernichten. Eine logisch-rationale Überprüfung der Handlungen und deren Identität mit der „reinen Lehre“ (die es übrigens auch nicht gibt) findet nicht statt. Erst das gesellschaftlich-ökonomische Umfeld der Menschen formt den religiösen Glauben. Zwischen dem „Opium des Volkes“ und „brutalster Gewaltanwendung“ gibt es ein großes Spektrum für die Ausübung des Glaubens: Christliche Mystiker beriefen sich genauso auf die Bibel, wie die Kreuzfahrer und Hexenverbrenner. Die lateinamerikanischen Diktatoren und die Vertreter der „Befreiungstheologie“ waren alle „Christen“ verschiedener Schattierungen. In Afghanistan der 70er Jahre wurden die von USA und Westeuropa finanzierten und unterstützten „Djiahadisten“ in ihrem Kampf gegen die Rote Armee als „Befreiungsbewegung“ bezeichnet. Die gleichen „fremdfeindlichen und fanatischen“ muslimischen Gewalttäter werden heute pauschal als „Terroristen“ bezeichnet. Die antimonarchistische iranische Revolution von 1979 wurde genauso mit dem Instrument des religiösen Glauben durchgeführt, wie die islamisch orientierte „Grüne Bewegung“ von heute, die mit friedlichen Mitteln gegen die Diktatur der Mullahs kämpft.
Religionen und historisch-gesellschaftliche Bedingungen sind zwei Seiten einer Medaille sind.
Damit soll bei jedem interreligiösen Dialog auch die Kehrseite der Medaille einbezogen werden. Religionen wurden von realen Bedingungen geschaffen und formten in der Folgezeit diese gewaltig. Die Architektur der heute vorzufindenden realen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingung wurden in vergangenen 200 Jahren von Europa aus ohne Beteiligung der Völkergemeinschaft entworfen und festgeschrieben. Diese eurozentristisch ausgerichtete Weltordnung produziert eben das, was die Situation erfordert. Europa verband die Aufklärung, Menschenrechte, Demokratie und Säkularismus mit einer „universellen Idee der Gleichheit aller Menschen“. Dennoch waren an erste Stelle die Angehörigen des christlich-abendländischen Kulturkreises gemeint. Zur gleichen Zeit, wo man in Europa die Werte „Gleichheit, Freiheit, Menschlichkeit“ entdeckt hatte und die nationalstaatliche Souveränität propagierte marschierten die europäischen Kolonialherren Hand in Hand mit christlichen Missionaren in die „primitive Welt“. Dort galten und gelten bis heute die „Prinzipien der Aufklärung und Menschenrechte“ nicht. Warum soll es auch so sein? Verpflichtet sich etwa ein „Tierschutzverein“ auch zum Schutz von Ratten und Ungeziefer? Stillschweigend wird diesen das Attribut „Tier“ abgesprochen.
Das häufigste und beliebteste Thema des islamisch-christlichen Dialogs ist die Gewalt (Djihad). Während die muslimische Seite bemüht ist, „Djihad” im weitesten Sinne des Wortes als „Anstrengung” auf dem Weg Gottes zu verstehen, werden die realen historischen Entstehungsbedingungen des Christentums und Islams ausgeblendet. Es wird vergessen, dass hier zwei Religionen mit total verschiedenen geschichtlichen Ausgangspositionen und Ansprüchen gegenüberstehen: Jesus Christus verstand sich als Messias und Retter. In dieser Eigenschaft konnte er nie Befürworter von Gewalt sein. Auch ein Arzt versteht sich als Heiler und nicht als Tötender! Seine Lehre wurde aber ab 352 n. Ch. politisiert und im Sinne der europäischen politischen Expansion instrumentalisiert (Kreuzzüge, Inquisition, Antisemitismus u.a.) und dann im Zuge der Aufklärung entmythologisiert, um später bekleidet als „Missionare“ Hand in Hand mit Kolonialmächten dem Kolonialismus die ideologische Legitimität im Sinne der Verbreitung von „christlich-abendländischer Kultur“ unter „primitive Völker“ zu liefern. Heute braucht die politische Macht nicht mehr die unverzichtbaren Dienste der Kirche in der globalisierten Welt arme Völker zu unterdrücken. Finanzmärkte und die unsichtbare Hand des Kapitals reichen aus, um den Expansionismus zu steuern. Militärpolitisch braucht man sich bei heutigen „Eroberungszügen“ nicht mehr auf christliche Kirche zu berufen. Dafür liefert das seit dem 11. September geschaffene Schlagwort „Kampf gegen den islamischen Terrorismus“ das notwendige Legitimationspotential. Dass man dabei auch die Werte der „abendländischen Kultur“ und „Menschenrechtsgedanken“ mit den Füßen tritt, kann hingenommen werden. Wenn es um muslimische Terroristen geht, wird das Folterverbot suspendiert. Auch das Attribut „Menschsein“ kann ihnen abgesprochen werden. So bezeichnete der russische Präsident Ende März 2010 nach dem Terror-Anschlag auf die Moskauer U-Bahn die Täter als „Bastian“, die nicht Teil der Gattung der Menschheit sind.
Das Christentum machte also in seiner Geschichte eine andere Entwicklung, als der Islam. Man muss heute bei der Beurteilung dieser Religionen historisch-kritischen vorgehen. Islamophobie war mehrere Jahrhunderte Teil der europäischen Kultur. Der heiße Kampf der Zivilisationen fand in der geschichtlichen Begegnung beider Religionen vor ca. 800 Jahren statt, als Europa und Asien noch auf dem gleichen Entwicklungsniveau waren. In Europa kam es jedoch zu einer Entfesselung von Kräften und einem Expansionismus, der im Orient nicht stattfand und dabei spielen die Religionen eine zweitrangige Rolle. Die entfesselten Kräfte handelten unabhängig und durchzogen alle Etappen der Geschichte. Der Islam verlor den Kampf auf dem militärischen Kriegsschauplatz der Geschichte wegen der technischen Unterlegenheit und hat sich mit dieser Niederlage immer noch nicht abgefunden.
Jesus und Mohammad hatten unterschiedliche Ziele
Während Jesus als ein friedfertiger Wanderprediger Frieden und „Nächstenliebe“ lehrte, hatte Mohammad von Anfang an mit einem politischen Anspruch. Er wollte mit allen Mitteln ein neues politisches System schaffen. In Mekka predigte er nach dem Beispiel seines Bruders Jesus und wollte gewaltlos seine Lehre verbreiten. Als es ihm nicht gelang, wanderte er nach Medina, um von dort auch durch Anwendung von Gewalt einen islamischen Staat gründen. Was geschah, kann als erste Revolution ihrer Art betrachtet werden. Die meisten Revolutionen (auch die europäischen Revolutionen) verliefen nach dem gleichen Schema, wie die Entstehung des Islam: Propaganda, Gewalt, Sieg und Revolutionskriege. Die heutige gewaltsame Politisierung des Islam speist sich von drei historischen Erfahrungen:
Der bewundernswerten Expansion des Islam, der im 7. Jhdt. neben dem persischen und byzantinischen Reich allein aus eigener Kraft und ohne Rückendeckung durch eine politische Macht (in der islamischen Geschichte gibt es keinen Konstantin) zu einer dritte Supermacht der damaligen Zeit wurde und in den darauf folgenden Jahrhunderten die Menschheit mit großen wissenschaftlich-kulturellen Verdienten bereicherte. Der große Unterschied zwischen beiden Religionen war, dass der Islam von sich und seinem Selbtsverstänis eine politische Kraft war, während das Christentum für seine Verbreitung auf „weltliche Kräfte“ Kräfte angewiesen war. Die Verbundenheit mit Politik gehörte genuin nicht zu christlichen Eigenschaften, und Jesus hatte selbst gesagt: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert werde. Aber mein Königtum ist nicht von hier.“ (Johannes, 18:36). So konnte das reformierte Christentum auch später sich leichter von einem Fremdkörper namens Politik trennen und sich zu einem ursprünglichen unpolitischen Charakter zurückkehren.
Der asymmetrische Dialog
Der Dialog zwischen Islam und Christentum wird in vielen Fällen in asymmetrischer und asynchroner Weise geführt. Er ähnelt einer Diskussion zwischen Menschen aus dem 21. Jahrhundert und Vertretern einer mittelalterlichen Epoche. In meisten Fällen fehlt es der islamischen Seite an Mut und Kraft aus einer eigenen historisch-kritischen Sicht, die kritischen Konfliktfragen (Djihad, Sharia, mangelnde Frauen- und Menschenrechte u.a.) als historisch überholt zu deklarieren, genauso wie die Sklaverei-Vorschriften, die es noch in Koran und Sharia gibt, aber ist durch die gesellschaftliche Entwicklung stillschweigend aufgehoben worden. Viele dieser muslimischen Dialogpartner stehen unter einem massiven Druck der herrschenden Tradition und Kultur ihrer Herkunftsländer. Einerseits müssen sie auf religiöse Autoritäten in ihren Heimatländern Rücksicht nehmen (dies gilt insbesondere für Dialogpartner aus dem Iran [3]) und andererseits stehen sie unter dem Druck von großen Teilen ihrer unaufgeklärten Gefolgschaft. Es prallen also zwei kulturelle Welten und nicht nur zwei Religionen aufeinander: die offene liberale Kultur gegen eine traditionsorientierte, starre und unfreie Kultur. Wenn man nicht die volle Freiheit und Souveränität für die Vertretung der eigenen Meinung besitzt, kann man auch keinen freien und fruchtbaren Dialog führen. Es gibt in der islamischen Welt aber inzwischen zunehmend eine Reihe von aufgeklärten und nonkonformistischen Theologen, die mit Mut zwischen „herrschender länderspezifischer Tradition und überholten Überlieferungen” einerseits und „dem Kern des islamischen Denkens” unterscheiden. Ein echter interreligiöser Dialog kann nur zwischen Christen und solchen islamischen Vertreten geführt werden. Kajoun Amirpur kommt der große Verdienst zu, in dem von ihr herausgegebenen Sammelband „Unterwegs zu einem neuen Islam“ drei iranische Vertreter dieser neuen Denkrichtung vorzustellen. Es sind Mohammad Mojtahed Shabestari, Mohsen Kadivar und Eshkawari. Das wichtigste Merkmal des neuen islamischen Denkens ist die Wendung zum real existierenden Menschen: die Religion ist für das Glück der Menschen da und nicht umgekehrt sollen Menschen (wie in der traditionellen Sicht) als gehorsame Diener eines von außen aufgezwungenen Glaubens angesehen werden.
Aber auch die westlichen Medien sind an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Es fehlt an der Bereitschaft zwischen kultur- und traditionsbedingten Sitten und islamischen Vorschriften zu unterscheiden. So wird die Beschneidung von Mädchen in manchen afrikanischen Ländern dem Islam angelastet, obwohl es dazu gar keine Vorschrift gibt. Es wird ignoriert, dass diese “Tradition” auch in manchen nichtislamischen afrikanischen Gesellschaften vorkommt. Auch ist es allgemein unbekannt, dass es im Koran an keiner Stelle die Steinigung als Strafe vorkommt. Dagegen finden wir im Alten Testament diese Strafe für zahlreiche Delikte. Eine historisch-kritische Betrachtung des Islam wird zeigen, dass Mohammad als realistischer Politiker immer wieder zur Erlangung und Festigung seiner Macht auch „unislamische Sitten und Werte“ in den damaligen Islam aufnahm, um seine Gegner in den Islam zu integrieren. So wurde mit Rücksicht auf konvertierten Juden „Sharia“-Vorschriften aus dem Thora aufgenommen. Mohammad behielt auch Teile der vorislamischen Sitten und Gebräuche der arabischen „Götzendiener“ z.B. die vier „verbotenen Monate“, in denen man keinen Krieg führen darf.
Muslime als „Problemgäste“ des Dialogs
In den meisten Dialogen werden die Muslime als „geladene Gäste” angesehen, die gekommen sind, um sich Kritik anzuhören. Sie sind diejenigen, die sich rechtfertigen und „Probleme” ihrer Religion ausräumen müssen. Es besteht latent eine „Ungleichheit” und eine unsichtbare ungleiche Machtverteilung. Die defensive Position der islamischen Vertreter bringt sie häufig in Argumentationsnot. Sie müssen nicht nur rein über ihren Glauben sprechen, sondern auch die durch Gewalt und Terror, Frauenunterdrückung und repressives Recht gekennzeichneten Missstände in der islamischen Welt rechtfertigen. Sich von bestimmten Dogmen zu distanzieren, fällt ihnen aus oben genannten Gründen nicht leicht.
Aus der Not heraus nehmen nicht selten rhetorische Redekunst und Polemik die Oberhand. Notfalls heißt es immer: „Was heute praktiziert wird, hat mit dem wahren Islam nichts zu tun.” Was aber der wahre Islam ist, kann aus Scheu vor einer historisch-kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben nicht präsentiert werden. Menschenrechtsverletzungen in islamischen Ländern werden gleich mit dem Hinweis auf das “menschenunwürdige Ignoranz” der westlichen Politik gegenüber der Unterdrückung der Palästinenser durch die israelische Armee beantwortet. Dass man im Westen neben der eigenen Ehefrau unbestraft mehrere Geliebten haben darf, wird der Kritik an Polygamie[4] gegenübergestellt. Kreuzzüge und Inquisitionsprozesse dienen undifferenziert und ahistorisch als Beweis für „Gewaltbereitschaft und Intoleranz“ des Christentums. Die Gewaltproblematik bei der Entstehung und Ausbreitung des Islam wird lapidar und undifferenziert mit der Feststellung begegnet, der Islam kenne nur „Verteidigungskriege”, was der historischen Wahrheit widerspricht. Ohne massive Angriffskriege würden die Muslime bereits 100 Jahre nach dem Tode des Propheten nicht über ein Reich verfügen, das streckenweise von China bis Spanien und Frankreich reichte. Auf beiden Seiten werden ungeordnet Historie und Gegenwart, Legende und Wahrheit, Tradition und Religion, Urteile und Vorurteile miteinander vermischt. Die Folge ist, dass man nicht selten den Dialog in Form von taktischen diplomatischen Verhandlungen führt und bemüht ist, strategische Positionen zu erkämpfen.[5]
Ebenen des interreligiösen Dialogs
In einem interreligiösen Dialog sollen die Parteien über ihre Positionen schonungslos streiten dürfen. Dieser Streit muss aber von bestimmten Regeln begleitet werden. Zunächst muss man die Klarheit schaffen, auf welcher Ebene der Dialog stattfinden soll. Es sind vier Ebenen zu unterscheiden:
- Politische Ebene
Auf der politischen Ebene liegt das Hauptinteresse auf „staatsbürgerliche Verantwortung”, “Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols” und “Trennung zwischen Religion und Politik”. Ziel eines politisch orientierten christlich-islamischen Dialogs muss die Einbeziehung und Partizipation der Muslime in die deutsche Gesellschaft sein. Integration ist nicht nur eine „Pflichtausübung” der Muslime, sondern „Gewährung von integrativen Rechten” und Schaffung von Mechanismen zur Beteiligung dieser Bürger bei der politischen Willensbildung.
- Theologische Ebene
Auf theologischer Ebene geht es um einen Austausch von Informationen und Abbau von theologischen Fehlurteilen. Man kann hier nach gemeinsamen Wurzeln, Geboten und Werten suchen. Selbstverständlich wird jede Seite die eigene Religion als die „bessere” betrachten. Dies soll auch ungeschminkt so bleiben, und die eigene Identität nicht im Sinne einer falsch verstandenen Annäherung preisgegeben werden. Zwischen Exklusivitätsanspruch und Preisgabe der eigenen Identität steht ein mittlerer Weg, nämlich die Überzeugung, dass es verschiedene Wege zum Heil und der Wahrheit gibt. Die Wahrheit kann als Haus mit verschiedenen Wohnungen betrachtet werden. Keine Religion soll sich im Besitz des Hauptschlüssels fühlen (Exklusivität), und das Haus soll auch nicht in ein Großraumbüro (Preisgabe der eigenen Identität) verwandelt werden. Aber auch die einzelnen Wohnungen dieses Hauses sind (wie Jochen Margull formuliert) von „Unvollkommenheit“, einer gewissen „Unordnung“ und sogar von innerfamiliären Streit gekennzeichnet.
- Soziale Ebene
Auf der sozialen Ebene findet der Dialog mit dem Ziel statt, praktische integrative Schritte zu unternehmen, um eine gemeinsame Anerkennung von gesellschaftlichen Normen durchzusetzen. Diese sind Normen, welche wie die Straßenverkehrsordnung für alle gelten, um einen reibungslosen Ablauf des gesellschaftlichen Zusammenlebens und sozialen Friedens zu gewährleisten. Erst, wenn der Einzelne sich als Mitglied der Gesellschaft fühlt und sich auch dementsprechend verhält, kann von einer gelungenen Integration gesprochen werden. Mit Habermas kann man hier von einem normenregulierten Handeln sprechen.
- Kulturelle Ebene
Im Zusammenhang mit dem interreligiösen Dialog muss genauestens zwischen „Normen” und „Wertvorstellungen” unterschieden werden. Auf der kulturellen Ebene geht es um gemeinsame Wertvorstellungen. Während die Normen auch ohne innere Überzeugung respektiert werden müssen (Straf- und Zivilgesetze, staatliche Vorschriften u.a.), werden im kulturellen Bereich Werte mit „Überzeugung“ internalisiert und zu eigen gemacht. Die „Menschenwürde”, „Gedankenfreiheit”, „Gleichheit der Geschlechter”, „Menschenrechte” u. a. sind universelle Werte, die die Menschheit erkämpft hat. Diese gehören nicht einer bestimmten Nation und einem Kontinent an. Wenn man diese allgemeinen Werte als „deutsche Leitkultur” bezeichnet, so werden Migranten stillschweigend als Vertreter einer „Unkultur” stigmatisiert. In der Tat waren die Deutschen gerade bei Entdeckung und Verbreitung von Werten, die man heute als „deutsche Leitkultur“ (Demokratie, Menschenrechte, Glaubensfreiheit, Bürgerrechte, Toleranz u.a.) keine Vorreiter. Anstatt dessen sollte man von einer Kultur der „Aufklärung und Menschlichkeit“ sprechen, was ein Erbe der gesamten Menschheit ist, auch wie sie sich durch günstige historische Konstellationen auf dem amerikanischen und europäischen Boden herauskristallisiert hat. Was speziell „deutsch“ ist, ist die Sprache. Ohne die deutsche Sprache kann kein Fremder einen Zugang zur Kultur der Menschlichkeit und Aufklärung finden. Deutsch ist auf dieser Ebene ein unverzichtbares Instrument der kulturellen Entwicklung und Integration.
Streit– und Dialogkultur als Voraussetzung eines DialogsJede dieser Ebenen erfordert eine eigene Streit- und Dialogkultur. Es wäre falsch, theologische Themen mit politisch-gesellschaftlichen Fragen zu vermischen. Es ist schließlich auch ohne Bedeutung, welche inneren Glaubensüberzeugungen der Einzelne in seinem Inneren vertritt, so lange diese nicht zu negativen sozialen Handlungen und Ablehnung von gesellschaftlichen Normen führen.
Im weitesten Sinne des Wortes kann auch die Religion als ein Element der Kultur verstanden werden. Die Religion hat in ihrer geschichtlichlichen Entfaltung zwei Ziele verfolgt:
Schaffung von Normen und Regeln für das zwischenmenschliche Zusammenleben sowie Stiftung von Sinn und Zweck in der einsamen Welt der Menschheit (Doppelcharakter des religiösen Denkens).
Die Religion ist eine ganz besondere Art der sozi-kulturellen menschlichen Kommunikation und kann von Humanwissenschaften im weitesten Sinne erfasst werden. (Nach dem Verständnis des erweiterten Kulturbegriffs, der 1982 von UNESCO angenommen wurde, ist Religion ein Bestandteil der Kultur. Die religiöse Kultur ist eine Quelle von religiösen Handlungen.) Diese Feststellung gilt ins besondere für den interreligiösen Dialog, der nichts anderes beinhaltet, als eine besondere Form der sozialen Kommunikation. Es wäre angebracht in diesem Sinne anstatt vom interreligiösen Dialog von interreligiöser Kommunikation zu sprechen, denn die Kommunikation geht über das „Miteinanderreden” hinaus und beschäftigt sich mit sozialem Handeln und Problemen der menschlichen Beziehungen. Schließlich will der interreligiöse Dialog nicht ein folgenloses unverbindliches Gespräch veranstalten, sondern das reale menschliche Handeln und die interreligiösen Beziehungen positiv verändern.
Habermassche Diskursethik als Basis für interreligiösen Dialog?
Welche wichtige Rolle das „Gespräch” bei der Gestaltung des kommunikativen Handelns spielt, haben in interdisziplinärer Weise die Philosophen, Soziologen, Kulturwissenschaftler, Moralphilosophen und nicht zuletzt die Linguisten gezeigt.
Der heute wohl bekannteste Ansatz geht auf Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel zurück und wurde unter dem Begriff „Diskursethik” bekannt.
In diesem Beitrag wird versucht, zwischen den Erkenntnissen der Diskursethik und interreligiösem Dialog eine Brücke zu schlagen.
Die habermassche Theorie der Diskursethik lässt sich verkürzt wie folgt zusammenfassen:
- Soziale Interaktionen werden durch Sprache (als zwischenmenschliches Verständigungsmittel) ermöglicht.
- Voraussetzung einer optimalen zwischenmenschlichen Interaktion und Kommunikation ist die vernunftorientierte und rational gestaltete sprachliche Verständigung.
- Eine erste Voraussetzung dafür ist der Verzicht der Gesprächsteilnehmer auf Beeinflussung der anderen Seite (perlokutive Sprachakte werden vermieden). Daneben müssen die Behauptungen begründbar und kritisierbar sein.
- Die Argumentation muss vier Grundlagen (Geltungsansprüche) erfüllen: Verständlichkeit, objektive (propositionale) Wahrheit, normative Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit.
Herrschaftsfreie Kommunikation in einem Dialog
Unter diesen Bedingungen kann von einer herrschaftsfreien Kommunikation gesprochen werden. Nach Habermas ist so ein Diskurs optimal rational und führt zur intersubjektiven Wahrheitsfindung. Unter diesen Rahmenbedingungen kann jeder Gesprächsteilnehmer einer Aussage (Proposition) zustimmen. Prinzipielle Gleichheit der Teilnehmer, prinzipielle Problematisierbarkeit aller Themen und Meinungen, prinzipielle Unausgeschlossenheit des Publikums sind neben fehlender Herrschaft weitere Voraussetzungen einer effektiven Kommunikation.
Habermas ist sich bewusst, dass eine Sprechsituation unter diesen Rahmenbedingungen nur im Idealfall vorkommen kann. Dennoch können sich Dialogteilnehmer vor jedem Diskurs um die Einhaltung dieser ethischen Bedingungen bemühen. Nur so kann es zu einem „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ mit dem Ziel der „kooperativen Wahrheitssuche“ kommen.
Die Besonderheit des interreligiösen Denkens (wie oben unter dem Doppelcharakter der Religiosität genannt wurde) erfordert die Entwicklung einer besonderen Diskursethik. Die Theorie von Habermas kann dazu positive Ansatzpunkte liefern, muss aber wegen der Besonderheit der religiösen Problematik modifiziert werden.
- Zu den von ihm entwickelten Geltungsansprüchen (Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit) müssen auch Prinzipien herantreten, welche sich speziell aus dem Charakter des religiösen Denkens herausbilden. Habermas konstatiert, dass ein aus diesen Geltungsbereichen abgeleiteter Diskurs „herrschaftsfrei“ sei. Das kann vom interreligiösen Dialog nicht unbedingt gesagt werden. Es kann vorkommen, dass trotz Vorhandenseins der vier Geltungsansprüche latent eine Art „strukturelle Herrschaft“ vorliegen kann, die sich aus dem asymmetrischen Charakter des Dialogs ergibt. Auch die personelle Zusammensetzung und der unterschiedliche Kenntnisstand der Teilnehmer können eine „strukturelle Ungleichheit“ und Mangel an „Chancengleichheit“ mit sich bringen.
- Persönliche Ambitionen und Verhaltensweisen spielen bei einem rein wissenschaftlichen Diskurs keine entscheidende Rolle. Der Gesprächspartner kann sich „arrogant“ und „überheblich“ verhalten, ohne dass der „Zwang zur zwanglosen Argumentation“ beeinträchtigt wird. Was am Ende des Gespräches zählt, ist die Stärke der Argumentation selbst. Dagegen spielen persönliche Faktoren, Gefühle und Emotionen in einem interreligiösen Dialog eine wichtige Rolle. Was den Dialog zum Erfolg führt, ist eine große Portion an Demut, Selbstkritik und gegenseitiger Respekt.
- Die Teilnehmer sollen nicht nur auf absoluten Wahrheitsanspruch beharren, sondern darüber hinaus, sich der „Relativität“ ihrer Kenntnisse von der eigenen Religion bewusst sein. Sie sollen anerkennen, dass sie dabei sind, ihre eigene Lesart und den eigenen Glauben zu präsentieren und dürfen sich nicht als „legitimierte Vertreter“ ihrer Glaubensgemeinschaft verstehen.
- Die Erkenntnis von der „Unvollkommenheit“ der eigenen Religion entlastet die Diskussion und dämpft die Schärfe des Dialogs. Auch die Religionsstifter haben ihre Lehre als einen Fluss betrachtet. Gerade der Islam fiel in den 23 Jahren seiner Entstehung nicht aus einem Guss vom Himmel, sondern erfuhr schon zu Mohammads Zeiten von Fall zu Fall entscheidende Ergänzungen, Revidierungen und Entwicklungen. So sieht der Koran selbst manche seiner Verse als „aufgehoben“ an.
- Der interreligiöse Dialog kann nicht mit raschen Ergebnissen und Erfolgen rechnen. Er ist kein wissenschaftliches Wochenend-Kolloquium, welches mit klaren Erkenntnissen abgeschlossen wird. Das jahrhundertelange Misstrauen zwischen dem Islam und Christentum kann in einem längeren Prozess abgebaut werden. Dabei spielen die 2. und 3. Generation der Muslime eine entscheidende Rolle. Dieser Personenkreis kann mit seinen praktischen Erfahrungen genauso viel beitragen, wie die Theologen und Experten der beiden Seiten. Die unbelastete Jugend hat keine Angst vor einem Identitätsverlust und erhebt auch keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Sie genügt am meisten dem habermasschen Prinzip der Wahrhaftigkeit.
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Fußnoten
[1] Es ist allgemein bekannt, dass die verstärkte Einwanderung von Muslimen nach Deutschland einerseits und die Angst vor einem radikalisierten Islam in vergangenen Jahren die Notwendigkeit von Dialogen sichtbar gemacht haben. Die Globalisierung und der fortschreitende Pluralismus haben zu einer kulturellen Vielfalt geführt. Allein die intensive Diskussion dieses Themas in der Politik und Gesellschaft hat die Religionsfrage, die in einer säkularen Gesellschaft „Privatsache“ sein soll, in den Mittelpunkt des politisch-sozialen Interesses gerückt. Nicht ohne Grund sprich Jürgen Habermas im Hinblick auf diese objektive Realität von einer „post-säkularen“ Gesellschaft. [2] Diese Erkenntnis kam leider viel zu spät, nämlich nach zwei Weltkriegen und Holocaust. Bereits 1740 hatte Friedrich der Große den berühmten Satz ausgesprochen: „In meinem Staate kann jeder nach seiner Fasson selig werden.“ [3] Ein Geistlicher aus dem Iran wollte ursprünglich in einer Dialogrunde mit österreichischen Kollegen einen „reformistischen“ Ansatz vertreten. Er verzichtete darauf und sagte mir: „Ich will ja auch in Zukunft Teil dieser Delegation bleiben.“ [4] Die richtige Antwort könnte heißen: „unter bestimmten historischen Bedingungen hatte der Islam die Zahl der Frauen auf 4 beschränkt und die Bedingung aufgestellt, diese sollen „gerecht“ behandelt werden, was jedoch aus der Sicht des Koran „unmöglich“ sei. Während in der vorislamischen arabischen Gesellschaft (im Islam wird von einer „Ära der Unaufgeklärtheit“ gesprochen) bei einem Ehebruch wahllos Männer und Frauen des feindlichen Lagers getötet wurden, verlangt der Islam nur die Bestrafung der Ehebrecher selbst. Die meisten in der damaligen Zeit praktizierten repressiven und grausamen Strafen („Sharia“) entsprachen dem Geist der damaligen Zeit. Dabei wurden viele willkürliche Strafmaßnahmen „reguliert“ und deren Ausübung erschwert („Zeugenaussage von vier rechtschaffenen Männern, die mit bloßen Augen den Geschlechtsverkehr zwischen Ehebrechern beobachtet haben“.) [5] Nach einem Gespräch mit Kirchenvertretern fragte mich der muslimische Gesprächspartner: „Wir hatten die Oberhand, sehen Sie es auch so?“
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Beitrag veröffentlicht
- Februar 2021