Der Islam zwischen permanenter Revolution und traditioneller Stagnation

 

Die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Islam unterscheidet sich radikal von denen der anderen Religionen:  Der Islam entstand nicht nur als Religion, sondern als eine politisch-soziale Revolution, begleitet von Prozessen der  Staatenbildung, Expansion, Eroberung, Völkerwanderung und Schaffung einer neuen Hochkultur.

Historiker beginnen in der Regel die Geschichte der großen Revolutionen mit den gewaltigen Umwälzungen der europäischen Neuzeit: Die  Französischen Revolution und die  sowjetischen Oktober-Revolution werden am häufigsten genannt. Die „Anatomie“ von Revolutionen zeigt dabei ein gemeinsames Grundmuster:  Aufklärung über bestehende Missstände, eine Vision von einer neuen Ordnung, revolutionäre Gewalt (Untergrundaktionen, Bündnisse, Terror, Überfälle), Sieg, Etablierung eines neuen Systems, Abrechnung mit „Revolutionsfeinden“, Revolutionskriege gegen ausländische Mächte mit territorialer Expansion,  grenzüberschreitende universale Heilansprüche, Spaltung unter Revolutionären („Die Revolution frisst die eigenen Kinder!“), „Säuberung“ im Namen der „Selbsterhaltung“, Bürgerkrieg, Restauration und Abweichung von ursprünglichen revolutionären Zielen im Sinne der Machterhaltung und Institutionalisierung. Vor und nach der Revolution gilt das Prinzip „ Das Ziel heiligt die Mittel.“

Die Gegner und Anhänger des Islam werden zu einem realistischen und gemäßigten Bild dieser Religion kommen, wenn sie dieses inzwischen hoch politisierte Thema auch historisch-politisch unter die Lupe nehmen. Vielen Muslimen wird es nicht leichtfallen, ihre heilige Religion mit irdischen historischen Erkenntnismodellen und von Menschen geschaffenen sozialwissenschaftlichen Methoden zu erforschen. Aber Mohammad war selbst der weltlichste Prophet und begründete eine säkulare Religion.

So finden wir haargenau das Muster einer vollkommenen weltlichen Revolution zum ersten Mal in der Geschichte im Entstehungs- und Entwicklungsprozess des Islam. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass alle späteren Revolutionen ihr Modell vom Islam abgeschrieben haben: Mohammad hatte vom Anfang eine Vision von einer neuen Gesellschaftsordnung. Das Ziel war die Entstehung einer Einheit unter zersplitterten und unaufgeklärten arabischen Stämme und Schaffung einer gerechten Ordnung.  Er war als „Manager“ seiner reichen Frau Khadijeh auf seinen Handelsreisen nach Nahen Osten mit anderen Zivilisationen und Religionen in Berührung gekommen.  Es ist auch mehr als normal, dass er dabei in dieser fortgeschrittenen multikulturellen Welt auch intensive Kontakte zu anderen Religionen  und angeblich zu einem christlichen Mönch gehabt hat. Auch dieser Tatbestand von muslimischen Gelehrten sehr ungern wahrgenommen, denn Mohammad wird (gegen alle historischen Belege) als allwissend und unfehlbar betrachtet. Sein Wissen habe er allein vom Erzengel Gabriel und nicht durch irdische Quellen erworben.

Mohammad durch seine besonderen Lebensumstände also „aufgeklärt. Nicht ohne Grund wird nur im Islam die alte Ordnung mit  einem soziokulturellen  Attribut als „djihalat“  (Unaufgeklärtheitt) und nicht mit einem religiösen (z.B. „Heidentum“) bezeichnet. Bis heute haben viele Muslime ein ähnliches Bild von der nicht-islamischen Welt, eine Welt, die moralisch, sozial und politische „dekadent“ sei!  Eine Art „Überlegenheitsfantismus“ wurde also bereits am Anfang in die Wiege gelegt, was man sonst beim Judentum (Auserlesenheit) sieht. Auch spätere Revolutionäre zeigen eine solche absolute Rechthaberei, ohne die die Massen nicht überzeugt werden können: Das ancien rėgime ist absolut schlecht, was kommen wird absolut gut. (Absolutheitsprinzip und Heilsanspruch)

Bereits hier werden auch weitere wichtige  Elemente einer Revolution sichtbar: Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung,  Integration (Einheit) der Gläubigen in eine einheitliche Überzeugungsgemeinschaft (Ideologie) und das  Kommen eines geschichtlichen Heils mit  Anspruch auf alleinige Legitimation (eschatologisches Heil und Exklusivitätsanspruch). 

Mohammed predigte (ab 610) 12 Jahre friedlich in Mekka für eine neue einheitliche (monotheistische) Ordnung. Wie man sieht, gehört Gewalt nicht zu genuinen und angeborenen Bestandteilen des Islam. Sie kam durch gesellschaftlich-politische Bedingungen hinzu. Währen im Christentum die Christenverfolgung etwa 350 Jahre dauerte, beendete Mohammad seine Verfolgung nach 13 Jahren und flüchtete nach Medina (622), wo er als Revolutionär, Kriegsherr und Staatsmann seinen Kampf gegen das alte Regime nun auch mit Gewalt fortsetzte.  Mit der Auswanderung beginnt die islamische Mobilität, die sich in der Folgezeit unaufhaltsam fortsetzt: Medina wird nach dem Sieg der Muslime nur eine sehr kurze Zentrum des islamischen Staates bleiben, und die Muslime ziehen danach stets nach Norden zu den Kulturzentren der damaligen Großreiche, Persien und Byzanz. Das Zentrum des Islam wird sich in den nächsten 150 Jahren von Medina nach Kufa, Damaskus, Bagdad und auch sogar nach Cordoba und für kurze Zeit nach Khorassan verlagern. Wie jede andere Revolution erweist sich auch der Islam als „grenzenlos“ und „universal“. Auch Napoleon hatte bei seiner Ägypten-Expedition den Anspruch des Revolutionsimportes in einer „primitive“ (!) Gesellschaft. Der Geist der kolonialen Umerziehung der Menschheit setzte sich von Europa (als „Wiege der Industriellen Revolution“) aus dann 150 Jahre lang weiter fort.

 

Mohammad war ein Sohn seiner Zeit

Mohammad als Stratege und Taktiker einer Revolution war ein Sohn seiner Zeit, einer Zeit in der es „Menschen- und Frauenrechte“ nicht gab. Auch andere Politiker seiner Zeit in Persien oder Byzanz waren Gefangener dieser Epoche. So scheut er sich in dieser medinetischen Zeit nicht vor  offensiven „Partisanenkämpfen“, Überfällen auf  Karawanen (in unserer Zeit: Banküberfälle!) und „Blitzkriegen“ (ghazweh, umgewandelt in „Razzia“). Wie bei jeder anderen Revolution wird auch hier die Gewalt als (letztes) legitimes Mittel zur Durchsetzung von politischer Macht  eingesetzt,  was in Mekka (der Zeit der Aufklärung) nicht der Fall war.  Die Weigerung mancher liberaler islamischer Denker, diesen Tatbestand (Gewaltbereitschaft) anzuerkennen, ist unverständlich. Man kann nicht alles verdrehen und schönreden, obwohl die Geschichte eine andere Sprache spricht. Im Irrtum befinden sich auch jene radikalen Kräfte, die sich an gewaltsame  Aktionen eines Staatsmannes orientieren, der unter ganz anderen historischen Bedingungen operierte.  Die sozialen und religiösen Gruppierungen, denen der Koran manchmal den gnadenlosen Kampf ansagt, sind heute nicht mehr präsent. Wer ist heute „Polytheist“, „Monotheist“, „Heuchler“ (munafegh), „Häretiker“, „Abtrünnige“ und „Apostat“, „Ausgewanderter“ (muhajerin) oder „Helfer“ (ansar)? Die Christen und Juden suchen auch heute nicht nach „Pharisäern“, „Hohepriestern“, „Pharaonen“, „Anbetern des goldenen Kalbes“ und Gruppierungen, die gesellschaftlich ausgestorben sind. 

Auch die „Koalitionspartner“ Mohammads waren andere: Er suchte auch mit Kalkül „Bündnispartner“ und war zunächst bemüht, Juden und Christen als Vertreter von zwei weiteren monotheistisch-abrahamitischen Religionen im Kampf gegen die Polytheisten in Mekka zu gewinnen, was jedoch keinen Erfolg brachte.  Bei all diesen Versuchen erweist sich Mohammad eher als Politiker, Taktiker und Weltveränderer als Prophet. Die Religion und Gesetze dieser Zeit  sind eindeutig im Dienste der Machtergreifung und können keineswegs auf andere Perioden und Epochen angewandt werden. Seine Botschaft kommt nicht, wie die Zehn Gebote an einem Tag, sondern während 23 Jahre. Die „Prozesshaftigkeit“ der islamischen Gesetzgebung zeigt, dass diese im Laufe der Zeit nur „zweckgebunden“ als „Mittel“ zum Ziel nach und nach „herabgesandt“ wurde. Hätte Mohammad noch 5 Jahre gelebt, dann hätte man wahrscheinlich heute eine andere Scharia, welche weniger von „revolutionären Bedingungen“ und mehr von einem reformistischen Geist geprägt gewesen wäre.

 

Dschihad: Ausbreitungspflicht

Zu diesen festen Bestandteilen der Revolution gehörte ohne Zweifel auch „Dschihad“.  Dschihad begleitet bis heute wie ein Roter Faden den Islam und ist eine der 5 Säulen dieser Religion. Djihad ist weder Heiliger Krieg (im Sinne der Extremisten), noch „friedliche Anstrengung“ (nach Verständnis der Liberalen) , Es kann mit „Anstrengung zur Ausbreitung des Islams“ übersetzt werden. Liberale Muslime deuten „djihad“ ausschließlich als „Anstrengung“. Diese Deutung ist zwar sehr sympathisch, entspricht aber weder der Praxis Mohammads, noch dem Geiste des Korans. „Djihad“ wird im Islam neben anderen Pflichten (Beten, Faste, Almosen, Pilgerfahrt) als selbständiges Prinzip genannt. Bei allen diesen weiteren Pflichten wird ohnehin von Muslimen „Anstrengung“ und „Standfestigkeit“ verlangt. Es bedarf also nicht der gesonderten Aufforderung nach „Anstrengung“.  Richtig ist, dass jeder Muslim (neben anderen Pflichten) auch verpflichtet ist, seine Religion (mit oder ohne Gewalt) auszubreiten, um die Hoheit und Macht über andere Völker zu gewinnen. Das Ziel war nie die „Bekehrung“, sondern als Anstrengung zur Unterwerfung anderer und der Demonstration der eigenen Überlegenheit.  In der Tat war die islamische Expansion nicht nur vom Blutvergießen und der Gewalt begleitet. Die friedliche Eroberung Mekkas durch Mohammad (632)  liefert das Grundmuster dieses Verhaltens: Hätten die Feinde Widerstand geleistet, wäre Mohammad auch in der Großen Moschee mit Gewalt gegen sie vorgegangen. Auch später wurden viele Gebiete  ohne Gewaltanwendung, sondern durch Siedlung der Muslime „unterworfen“. Große Teile Nordafrikas und Teile Spaniens  im ersten Jahrhundert nach Islam und die Islamisierung von weiten Gebieten Südostasiens in der Neuzeit sind Beispiele. 

 

Mohammad war ein weltlicher revolutionärer Pragmatiker

Was die Muslime heute durch eine historisch-kritische Rückschau lernen können, ist die erstaunliche Flexibilität und der Pragmatismus Mohammads bei der Durchsetzung seiner Ziele. Er handelte stets zweckorientiert und nie dogmatisch. Dies unterscheidet ihn von der „Tradition der gesetzestreuen israelischen Propheten“. Man sieht Spuren eines christlichen Bewusstseins in allen von Mohammad und Koran verordneten Bestimmungen. (Jesus: „Der Sabbat ist für Menschen, und nicht die Menschen für Sabbat“).  Auch die Muslime haben im Laufe ihrer Geschichte immer  mit „Opportunitäten“ gelebt und die Theologen waren und sind in der Lage, Gesetze und Vorschriften bis zur Unkenntlichkeit neu zu interpretieren. Diese Flexibilität wurde aber in den letzten 14 Jahrhunderten nur als geeignetes Instrument zur „Erhaltung der Tradition“, aber nicht im Sinne von Reform und Systemüberwindung eingesetzt. Mohammad selbst hatte den Grundstein für die Flexibilität und Zweckorientierung der Gesetze gelegt: Zur Erreichung seiner Ziele dürften auch religiöse Prinzipien aufgegeben oder an jeweilige Situation angepasst werden. Um die muslimische Souveränität gegenüber rivalisierenden Juden unter Beweis zu stellen, wird sogar die Gebetsrichtung von Jerusalem nach Mekka geändert, Verträge mit den Erzfeinden (mekkanischen Polytheisten) geschlossen, drastische Strafmaßnahmen gegen Muslime verhängt, die aus der Reihe der Gläubigen ausscheren und mit dem Feind gemeinsame Sache machen (Apostasie) und die revolutionäre islamische Ordnung stören (Todesstrafe für Unruhestifter, drakonische Strafen für Ehebrecher, Diebe u.a).  Hier kommt zum „Machtprinzip“ eine zweite Säule hinzu: Aufrechterhaltung der inneren Ordnung einer einheitlichen Umma. Diese Dekrete sollten damals der EINHEIT der Muslime dienen und die innere Ordnung aufrechterhalten. Es fragt sich, welche der im Koran und Hadith niedergeschlagen Gesetze nur auf eine einheitliche Umma (unter der persönlichen Führung des Propheten) zugeschnitten sind, und welche heute auf mit 34 islamischen Staaten (mit unterschiedlichen Verfassungen, Straf- und Zivilgesetzen) Anwendung finden können.

Mohammad gründet in Medina eine „Brudergemeinschaft“, nimmt einflussreiche und reiche Persönlichkeit des feindlichen Lagers in seine Gemeinschaft auf, geht (nach dem Tode seiner ersten Frau) aus Staatsräson manche „Zweckehen“  (Vorrang der Staatsinteressen) mit Töchtern von Mächtigen ein. (Koran erlaubt ihm sogar in einer Ausnahmeregelung die Eheschließung mit mehr als 4 Frauen, was in einem einmaligen Akt dem Gleichheitsprinzip zwischen Mohammad und der Gemeinde verletzt.) Er schaltet die Juden als erste Rivalen aus, macht aber zur Gewinnung ihrer Gunst auch Kompromisse in der Gesetzgebung und alttestamentarischen Strafen (Scharia).

Bei der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Einheit  und auch bei der äußeren Expansion dieser Einheit war die Gewaltanwendung ein legitimes Mittel (Gewaltmonopol des revolutionären islamischen Staates in Medina). Mohammad sucht nach einer Legitimität der Macht und findet es in seiner göttlich bestimmten Sendung (Legitimität der Mach durch Gott). Dieses Prinzip wurde in der Person des Propheten von seiner Umma nie in Frage gestellt, bildet aber ein zentrales Prinzip des politischen Islam und wird erst nach seinem Tod zu gewaltigen Auseinandersetzungen führen.

Schon in Medina sorgt sich Mohammad für den Bestand seiner Gemeinschaft durch Vermittlung einer Identität. Bis heute hat der Islam, wie keine andere Doktrin (Nationalismus, Sozialismus, Panarabismus) eine identitätsstiftende Kraft entfaltet. „Identität“  war für Muslime, die von Feinden und Ungläubigen umgeben waren, von großer Bedeutung. Der islamische Glaube und Einhaltung innerer Ordnungsfaktoren verschaffte ihnen diese Identität und innere Kohärenz. Das Festhalten an dieser Identität und  Zugehörigkeit zur Umma wurde seitdem ein Grundbestandteil des Islam.

Die Eroberung von Mekka (631) lieferte für spätere Muslime das Muster: Dass Mohammad nicht  Rache übt und sich seinen gestrigen Feinden gnädig zeigt, bringt ein weiteres Element des Islam hervor, nämlich die „Toleranz“.  Diese Toleranz und Großzügigkeit zeigen sich in der späteren Geschichte immer wieder dann, wenn die Gegner unterworfen (Unterwerfungsprinzip) sind und von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht. Mohammad wusste mit Kalkül, dass er die „Gestrigen“ für den Aufbau seines Staates braucht. Auch hier hat das Prinzip der Staatsräson Vorrang gegenüber dem Glauben. Die  prophetische Tradition, die neben Koran eine gewaltige Säule des islamischen Glaubens darstellt, war unter Mohammad kein statischer und fester Begriff, sondern ein dynamischer Lebensweg, in dem alles in Fluss war: Mohammad brachte Vorschriften, revidierte und ergänzte sie, oder ließ sie ganz fallen. Er hinterließ weder eine fertige Theologie, noch eine Rechtsschule. Der Koran wurde 20 Jahre später gesammelt und die Orthodoxie entwickelte sich fast 150 Jahre später durch „weltliche“ Gelehrte als Antwort auf die Herausforderungen der damaligen Epoche.

Bei seinen Entscheidungen handelte Mohammad  stets nach weltlichen Gesichtspunkten:  Man kann seinen Koran als Manifest, seine Umma als Volk, seine Gegner als Konterrevolutionäre, seine Scharia als „Revolutionsdekrete“, seine Gefechte als „Revolutionskriege“,  sein Paradies als eschatologischen Endsieg der Muslime (klassenlose Gesellschaft) und die Hölle die die endgültige Niederlage der Gegner verstehen. Dies alles unterscheidet ihn von „Propheten“ vor ihm. Er kommt ganz normal auf die Welt, ist nicht vom Anfang „Prophet“, sondern wird im Alter von 40 Jahren (für damalige Verhältnisse in späten Lebensjahren) „berufen“. Seine Religion trägt weder den Namen eines Volkes (Judentum), noch einer Person (Christentum, Buddhismus …), sondern einer Ideologie der „Ergebenheit“ (Islam). Wer an seine Lehre glaubt, braucht keinen blinden Glauben an „Wundertaten“; man kommt fast ohne Glauben an „Metaphysik“ aus. Auch das Dogma der „Unfehlbarkeit“ ist weder im Koran, noch in Sunna eine Voraussetzung für den Glauben an Mohammad. Vielmehr belegt der Koran an mehreren Stellen die menschlichen Fehltritte des Propheten, Verse, die auch ehrlicherweise von Mohammad nicht unterschlagen wurden. Er stirbt nicht wie Noah im Alter  950 (Gen. 9,29)  Jahren, und nicht am Kreuz (wie Jesus), sondern mit 63 im Schoße seiner Lieblingsfrau und hat als einziger Prophet ein Grab und wird auch nie vor dem jüngsten Tag auferstehen. Um Muslim zu werden, braucht man die Vernunft nicht abzuschalten, will man Christ werden, muss man an „unwissenschaftlichsten“ Dinge der Welt (Jungfräulichkeit Marias, zahlreiche Wunder, Auferstehung Jesu nach Kreuzigung u.a.) glauben. Es wundert, dass die weltlichste Religion der Welt heute zu einer der dogmatischsten  Religionen der Welt herabgestuft ist.

Die „Versöhnung“  mit den Erzfeinden des Islam nach der Eroberung von Mekka geschah aus taktischen Gründen zur Befestigung der Macht, erwies sich aber später als ein innerislamischer Krisenherd und wurde zu einem Verhängnis, dass streckenweise den islamischen Bestand nach Mohammad gefährdete.  Bereits 30 Jahre nach Mohammads Tod rissen diese ehemaligen mekkanischen Polytheisten und Erzfeinde Mohammads, die sich aus Opportunität den Islam angenommen hatten,  die Macht an sich und gründeten islamische Monarchien. Nichts mehr war von einer Toleranz zu spüren, als die innere Sicherheit und Ordnung des neu gegründeten politischen Systems gefährdet schien.  Dieses Prinzip durchzieht in der Folgezeit die islamische Geschichte: Wie bei jedem anderen politischen System hatten auch im Islam stets die „Bestandserhaltung“ und „Machtorientierung“  gegenüber „Gewaltlosigkeit“; „Toleranz“ und „Frieden“ den absoluten Vorrang.

Vor seinem Tod (632)  schreibt der Prophet als neuer Staatsmann auch Briefe an den byzantinischen und persischen Kaiser und meldet seinen Anspruch als dritte Kraft neben den damaligen beiden Supermächten der Welt und schickt in seinem letzten Lebensjahr schon eine Truppe zum Kampf gegen Ost-Rom (632). Die Expansion über die eigenen Grenzen hinweg wird seitdem ein Bestandteil des islamischen Glaubens. Der damalige Traum von der Eroberung Jerusalems und Konstantinopels wird später realisiert, die Eroberung Wiens aber nicht!

 

Rivalität und Machtkampf um das Erbe Mohammads

Die Revolution Mohammads musste, wie in jeder anderen Revolution auch,  nach seinem Tode durch blutige Kämpfe unter den Gläubigen gehen. Man kann den heutigen Islam nicht verstehen, ohne sich intensiv mit dem Erbe Mohammads in den ersten 50 Jahren nach seinem Tode, also bis zur Stabilisierung der inneren Ordnung zu beschäftigen. In diesen Jahren überschlagen sich die Ereignisse, und alle oben genannten Prinzipien kommen in einer engen und einmaligen Konstellation zur Geltung:

Andere Religionen hatten nach dem Tode des Stifters keine Probleme mit der „Nachfolge“. Diese Frage ist  typisch, lebensentscheidend und systemimmanent r bei politischen Systemen , und nirgendwo wird der politische Charakter des Islam so sichtbar, wie bei der Nachfolgerfrage nach dem Tode Mohammads. In dieser Frage bleibt die islamische Welt bis heute gespalten. Die göttliche Legitimität der Macht bleibt nach Mohammad ungelöst. Heute lassen sich unterschiedliche Systeme und Bewegungen ihre Macht auf „Allah“ zurückführen: Al Qaida, der König Saudi-Arabiens und der schiitische Revolutionsführer Khamenei im Iran wollen alle „Stellvertreter Gottes auf Erden“ sein. Es gibt keinen Anlass zu glauben, dass dieses Problem je in der islamischen gelöst werden kann.  Die Machtorientierung des Islam und der Kampf um politische Hegemonie und Unterwerfung,  ja der Kampf um die Legitimität der Macht wurde unter den  einstigen Gefährten begann schon am Sterbebett des Revolutionsführers vom späteren  zweiten „rechtschaffenen Kalifen“ Omar ibn Khattab angezettelt.  Er setzte sich gegen den Anspruch der Schiiten durch, die den Vetter und Schwiegersohn Mohammads Ali als Nachfolger sehen wollten. Omar war (634-644)  als  kompromissloser puritanischer Pragmatist  maßgeblich an der militärischen Expansion des Islam beteiligt. Ohne gnadenlosen Expansionsgeist Omars wäre Islam in der arabischen Halbinsel in Vergessenheit geraten. Wenn Mohammad mit Lenin verglichen werden kann, so war Omar der Stalin und der Idealist Ali der Trotzki des Islam! Sowohl Omar, als auch der dritte  Kalif Osman (644-656) und schließlich  Ali wurden alle Opfer von Terroranschlägen von andersdenkenden muslimischen Extremisten, die aus innerislamischen Spaltungen hervorgingen. Gegen Osman kam es zu einer Rebellion, an der wohl auch die Lieblingsfrau Mohammads Ajesheh im Hintergrund beteiligt war. Diese zog sogar gegen Ali (Er übernahm als 4. Kalif von 656-661 die Macht) persönlich auf einem Kamel sitzend in einen offen Krieg. (Kamelschlacht  am 9. Dezember 656) Parallele zu heutigen Revolutionen (Viererbande nach dem Tode Maos!) liegen auf der Hand.  Unter Ali (dem 4. Kalifen) hatte sich Moawieh als Gegenkalif in Damaskus etabliert. Sein Vater Abu Sofyan gehörten zu den Polytheisten und Gegnern Mohammads in Mekka, nahm aber aus Machtgründen nach der Eroberung Mekkas den Islam an. Ali musste auch gegen Moawieh (Begründer der Umaiyaden-Dynastie) der eine „Restaurationspolitik“ verfolgte, einen unentschiedenen Krieg führte. Zwei islamische Armeen standen sich erstmals ( Schlacht von Seffin  657)  gegenüber. Der Krieg wurde abgebrochen, als das Heer Moawieh´s zu ihrem Schutz Blätter des Korans an die Spitze ihrer Lanzen befestigten. Auch kam es zwischen den Söhnen von Moawieh und Ali, nämlich Yezid und Hossein zu einem völlig ungleichen Krieg, bei dem Hossein und seine 72 Kampfgefährten in Kerbela geschlachtet wurden (10. Oktober 680). Dieser Tag,  Ashura (Karfreitag der Schiiten) ist der eigentliche Beginn der Spaltung und der schiitischen Bewegung gegen die Sunniten, ein Streit der auch heute noch nicht beigelegt ist. Diese Entwicklungen sind nicht typisch für eine Religion, sondern für eine Revolution, die die eigenen Kinder frisst.

 

Macht als einziges Heiligtum?

Wie grausam und skrupellos manche islamischen Kalifen gegen interne Feinde vorgingen, zeigt die Belagerung und Eroberung Mekkas durch den aus Damaskus regierenden 5. Kalif der Umaiyaden, Abdul Malek Marwan, der den in Mekka residierenden Gegenkalifen Abdullah ibn-Zubair durch seinen für seine Grausamkeit bekannten Statthalter von Basra Hajjaj ibne Yousof beseitigte (Oktober 692): Die heilige Stadt wurde 7 Monate belagert und Kaaba (auch während der Pilgerfahrt) mit Stein-Katapulten beschossen. Dabei  wurde die Stoffbedeckung von Kaaba verbrannt und der „schwarze Stein“ zerstückelt. Der Gegenkalif wurde mit einigen wenigen treuen Gefolgsleuten beim Kampf um die Kaaba getötet. Hier kommt ein versteckter säkularer Kern des Islam zum Vorschein: Die irdische Macht steht absolut über Heiligkeiten und Dogmen.

Stelle man sich als Christ vor, dass gleich bei der Kreuzigung Jesu es zu einem Konflikt um die Nachfolgerschaft ausbricht, und dass Petrus und Paulus sich in der Folgezeit blutige Schlachten liefern. Das Prinzip der Nachfolgerschaft eines Propheten im Sinne der Übernahme der inneren und äußeren Macht ist in keiner anderen Religion vorhanden und ist typisch für soziale Bewegungen und Revolutionen, die eine Permanenz bis zur Erreichung eines Endzieles beanspruchen. Gerade dieses Prinzip der Permanenz ist ein untrennbarer Bestandteil des Islam.

 

Tradition als Hindernis

Die Nachfolger ließen ihre Macht teilweise durch die Blutsverwandtschaft (Schiiten) mit dem Propheten und teilweise durch die Fortsetzung seiner Sunna (prophetische Tradition) legitimieren. Was jedoch diese Tradition sein soll, blieb ungeklärt und wurde politischen Machtinteressen preisgegeben. Auch die Schiiten beriefen sich auf die Tradition und behaupten bis heute Mohammad habe selbst seinen Vetter und Schwiegersohn Ali bei der Abschiedswallfahrt nach Mekka zu seinem Nachfolger bestimmt. Die Berufung auf die Tradition war in der Folgezeit stets die Basis für die politische Machtergreifung, Machterhaltung und auch innerislamische Spaltungen. Somit kommt (wie bereits erwähnt) ein weiterer Bestandteil in den Islam hinzu: Traditionsorientierung, als identitätsstiftender Faktor

Diese Traditionsorientierung war und bleibt im Islam ein Klotz am Bein aller Reformen. Im Christentum sind Evangelien Überlieferung (Offenbarung) und Tradition (Lebensführung Jesu Christi) in einem. Man braucht nicht zusätzliche Quellen (Hadith), um daraus den Willen von Jesus zu bestimmten Fragen des täglichen Lebens abzuleiten.  Dagegen wurde gerade die „Tradition“ im Islam zu einem Spaltungsfaktor und aber auch zu einem Hemmnis der souveränen und selbstständigen Deutung dessen, was Mohammad gewollt hat. Es wurde immer wieder gefragt, was der Prophet in einer bestimmten Situation getan und gesagt hat, aber nicht was er in einer konkreten Lage in den darauf folgenden Jahrhunderten hätte gesagt und getan. Diese Statik und Rückwärtsorientierung überlebte alle Phasen der islamischen Theologie. Ohne Rückbesinnung auf Tradition ist keine islamische Theologie  denkbar.

In der Theologie und im Recht blieben muslimische Denker (sowohl die Fundamentalisten, als auch die meisten Reformisten)  „traditionsorientiert“, und dies ist wohl ein Grund für das Fehlen einer Reformation im protestantischen Sinne. Auch Martin Luther wollte zwar zu der reinen christlichen Tradition zurück, aber damit wurden befreiende Elemente des Urchristentums betont und die hemmende Tradition des Papsttums in Frage gestellt. Luther handelte nach dem Prinzip: Tradition bedeutet die Weitergabe des Feuers und nicht der Asche.

Die Machtergreifung der Abbasiden gegen die Umaiyaden mit persischer Hilfe (750)  wurde ebenfalls mit Hinweis auf die Tradition begründet: der Wechsel wurde  genealogisch mit der Zurückführung  der Macht an die „Familie“ Mohammads (Abbas war ein Onkel des Propheten) begründet.  Auch dieser Machtwechsel war, wie in Vergangenheit, vom grausamen Blutvergießen begleitet: Man ließ alle lebenden Umaiyaden, angeblich zu einem Versöhnungsbankett, in Palästina zusammenkommen; sie wurden erbarmungslos niedergemacht, die Leichen ihrer toten Vorfahren wurden ausgegraben und geschändet. Ein einziger, der später in Spanien ein neues Reich begründete, vermochte zu fliehen.

 

Erste Islamische Expansion

Ungeachtet der inneren Auseinandersetzungen setzte sich die rasche Expansion der Islamischen Revolution über die Grenzen der arabischen Halbinsel fort. Man wird an die Feldzüge Napoleons nach der französischen Revolution und Eroberung von mittelasiatischen Gebieten nach der Oktoberrevolution erinnert:

Die arabischen Truppen eroberten 635 Damaskus, 639-641 Ägypten, 640-644 Persien,  und es wurden  Siedlungen arabischer Gruppen angelegt. Dann expandierten die arabischen Heere bis zum Atlantik (691), nach Byzanz, Südfrankreich (711), Transoxanien (711) und Sind (711).  711 wandten sich die muslimischen Truppen (vorwiegend Berber) unter  Tariq ibn Ziyad  bei Gibraltar  (Berg des Tariq) gegen das christliche Europa und landeten in Spanien. Von 674 bis 678 wurde sogar Konstantinopel selbst zugleich vom Land und von der See her angegriffen, aber vergeblich. Dieser Angriff wurde in den Jahren 717 und 718 wieder ohne Erfolg wiederholt.  751 besiegten die Araber schließlich in der  Schlacht am Talas ein chinesisches Heer.

Dabei gingen die muslimischen Angreifer gegen die unterworfene Völker (von Ausnahmen abgesehen) erstaunlich tolerant vor. Man begnügte sich damit, dass der Islam (mit oder ohne Gewaltanwendung) die Oberhand gewinnt, auch wenn fremde Völker ihre Religion und Traditionen behielten. Armenien, Teile in Spanien, große Teile von Balkan (unter Osmanen) und Indien sind Beispiele dafür, dass es keine Zwangsbekehrung durch Muslime gab.

 

Die islamische Blütezeit

Die Epoche der Abbasiden (749–1258) wird als Blütezeit der islamischen Kultur bezeichnet. Mit „islamisch“ ist nicht die religiöse Prägung dieser Kultur, sondern der islamische Kulturkreis gemeint. In Wirklichkeit ist diese Phase das globalisierte Zusammentreffen von wichtigsten euroasiatischen Kulturen (griechische, arabische-persische und lateinische Europa). Arabisch-persische Wissenschaftler waren Vermittler zwischen in Vergessenheit geratener griechischer Antike und der Kultur des lateinischen Europas:

Bagdad wurde mit mindestens 100.000 Einwohnern zum Zentrum für Wissenschaft, Kunst und Kultur. Ein weiteres Zentrum war die ostpersische Provinz Khorassan und Nord-Ost-Region des heutigen Afghanistan.

Auch nach dem Zerfall dieses Imperiums,  ging die kulturell-wissenschaftliche Blüte des Islam bis zum 15. Jahrhundert weiter. Die Ursachen dieses einmaligen Aufschwungs sind nicht ausreichend untersucht, genauso wie die Gründe für den darauffolgenden Stillstand der wissenschaftlichen Entwicklung.  Ein Grund mag an dem Charakter des Islam selbst und dessen Anspruch auf Offenheit, Überlegenheit und grenzenlose Universalität liegen. Schon der Prophet Mohammad soll empfohlen haben: „Sucht das Wissen, auch wenn es in China sein sollte.“ Ein weiterer Grund liegt im weltlichen und diesseits gewandten Charakter des Islam, der von Anfang an Wissenschaft und das „Nachdenken“ (wie es der Koran immer wieder empfiehlt) befürwortete.  Muslime gingen damals mit einer großen Portion an Selbstsicherheit und Souveränität an fremdes Gedankengut heran und sahen darin (im Gegensatz zu heute) keinen „Kulturkolonialsmus“. Wissenschaftler wurden nie als Konkurrenten der Theologie verstanden. Vielmehr wurde die Notwendigkeit erkannt, die islamische Theologie in Konfrontation und Dialog mit „Ungläubigen“ durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Übernahme von griechischer Philosophie zu untermauern.  Auch wenn das Prinzip „Vernunft“ sich nicht immer gegen theologische Spekulationen durchsetzen konnte, dennoch blieb die Theologie auch in ihrer dogmatischsten Phasen „wertorientiert.“ Für einen Muslim sind manche  christliche Dogmen, wie Trinität unverständlich, unrealistisch und unwissenschaftlich. Islam kommt ohne Wunder und Glauben an übermenschliche Kräfte aus. Auch der Glaube an den jüngsten Tag konnte offen in der islamischen Theologie in Frage gestellt werden, in dem man gelegentlich annehmen durfte, diese Auferstehung betreffe nur die Seele, aber nicht den sterblichen Körper, der sich nicht mehr zusammensetzen kann.

Was die islamischen Wissenschaftler auf dem Gebiete der Astrologie, Mathematik, Chemie, Medizin, Physik und vor allem Philosophie zustande brachten, und auch ihren christlichen Kollegen imponierten,  kann an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Eine gute Zusammenfassung findet der Leser in Wikipedia unter „Islamische Blüte“. Stellvertretend für viele dieser Köpfe sei an Averroes erinnert, der in Cordoba lebte und arbeitete. Er beeinflusste im europäischen Spätmittelalter die christlichen Philosophen, die auf der Such nach Vereinbarung zwischen Vernunft und Glauben waren.

Der aus Spanien zurückgekehrte Adelard von Bath und Wilhelm von Conches in Chartres führen einen ähnlichen Kampf für die Vernunft, sei es auf dem Gebiet der Erfahrung, sei es, wie Abaëlard, auf dem der Logik. Adelard von Bath erklärt einem traditionalistischen Gegner: »Es fällt mir schwer zu diskutieren … Ich habe von meinen arabischen Lehrern gelernt, die Vernunft zum Führer zu nehmen; du hingegen bist zufrieden, als Gefangener einer Kette von fabelnden Autoritäten zu folgen. Welchen anderen Namen kann man der Autorität geben als den einer Kette? Wie die unvernünftigen Tiere an einer Kette geführt werden und nicht wissen wohin und warum – man führt sie und sie bescheiden sich damit, dem Strick, der sie hält, zu folgen – so sind die meisten von euch Gefangene einer animalischen Leichtgläubigkeit und lassen sich gefesselt zu gefährlichen Meinungen verleiten durch die Autorität des Geschriebenen.«

[s. Fischer  Weltgeschichte (FWG), Band 11: Das Hochmittelalter: Erster Teil. Die Entfaltung der Christenheit (1060-1180). 6. Geistige Rückwirkungen. Fischer Weltgeschichte, S. 7989

(vgl. auch FWG Bd. 11, S. 158-159)

Historiker berichten von technischen Wunderwerken der Muslime in dieser Epoche. Zitiert wird immer wieder die Schenkung einer Uhr (neben einem Elefanten) von Harun al Rashid an Karl den Großen als ein Exempel für die technischen Fähigkeiten der Muslime dieser Zeit:

„Die Wasseruhr, welche Harun al-Rashid Karl dem Großen schenkte, bestand aus Leder und damaszierten Messing; metallene Ritter, die alle Stunde eine Tür öffneten und die jeweilige Anzahl von Bällen auf eine Zimbel fallen ließen und sich dann, die Tür schließend, wieder zurückzogen, zeigten die Zeit an.“ (Will Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Band 5, Köln 1985, Seite460)

Die Macht der Abbasiden zerfiel (wie in jedem Imperium) durch Autonomiebewegungen der Randgebiete und Ansturm von Türken und Mongolen, die 1258 Bagdad eroberten und zerstörten. Mit dem Verfall des islamischen Imperiums verlor der Islam auch seine Vitalität. Das Festhalten an „Tradition“, „absolutistischer Herrschaft“, „göttlicher Legitimation der Herrschaft“ (diese hatte längst ihre Basis verloren), „Priorität der Macht und Ordnung“ gegenüber „Reform und Veränderung“, machten den Islam anfällig gegenüber aus dem Osten heranziehenden Nomadenvölkern, die den Islam  als Instrument für ihren Eroberungs- und Expansionsgeist nutzten.

Der mongolische Angriff auf das islamische Reich verletzte das Selbstbewusstsein der Muslime. Zum ersten Mal seit dem islamischen Aufstieg erlitt man die Demütigung heidnischer Eroberung und Beherrschung der islamischen Kernländer. Die Nomadenvölker brachten aber dennoch mit ihrem frischen Eroberungswillen neue Zentralstaaten hervor, aus denen später das Osmanische Reich hervorging.

 

Kreuzzüge als Antwort Europas?

Zur gleichen Zeit wurde die islamische Welt durch Kreuzzüge (1096-1291) unter Druck gesetzt.

In der Literatur werden Kreuzzüge als eine Antwort auf die erste islamische Expansion gedeutet. Dies kann nur eingeschränkt als ein wichtiges Motiv der Kreuzfahrer angenommen werden. Jedenfalls erfolgten sie gleichzeitig mit dem Verfall der Umma als einheitliches Gebilde.  Die Abbasiden waren ab Mitte des 10. Jahrhunderts durch Angriffe aus den Randgebieten geschwächt und regierten bis zur Eroberung Bagdads durch die Mongolen nur symbolisch als Kalifen. Erstaunlicherweise verfolgten die Muslime die Kreuzzüge (diese spielten sich ohnehin am Rande des Imperiums) mit Gelassenheit und Selbstsicherheit und sogar aus einer Ebene der Überlegenheit. Die Kreuzfahrer waren in ihren Augen ungebildete wilde „Franken“. Dass diese Feldzüge ein Vorbote für spätere europäische Expansion sein könnte, kam niemandem in den Sinn.  Auch hier spielt die „Selbstgenügsamkeit“, „Überheblichkeit“ und das Gefühl der gottgegeben ewigen Überlegenheit über Ungläubige eine Rolle. Man hat auch nie versucht während der 200jährigen Kreuzzüge etwas von der Eindringlichen zu lernen und sich ihnen ernsthaft zu beschäftigen. Die wissenschaftliche Orientierung der Muslime galt (auch in späteren Jahrhunderten) eher der griechisch-byzantinischen Richtung, als dem lateinischen Europa.   Dagegen brachten die neugierigen Kreuzritter jedes Mal nicht nur Gewürze, sondern auch Wissenschaft, Philosophie, Kultur, Musik und Folklore nach Hause, die auch in die Sprache der Europäer eingingen.

Die Kreuzzüge erreichten ihr Ziel, nämlich die anhaltende Kolonialisierung Palästinas und Nahen Osten nicht, dennoch machten sie das lateinische Europa mobil, schwächten sie das byzantinische Reich, entdeckten neue Handelswege und legten den Grundstein für die europäische Expansion.

Am Ende der Kreuzzüge erwachte Europa aus dem finsteren Mittelalter, beherrscht vom Stillstand, Allmacht des Papstes und Kaisers, Streitigkeiten zwischen Kirche und Staat, und Unmündigkeit der Bürger. Die Kreuzzüge selbst waren der Gipfel dieser Unmündigkeit, zumal sie mit zwei unsinnigen Kinderkreuzzügen (1212) fast zu Ende gingen.

Das „Überlegenheitsgefühl“ der Muslime gegenüber anderen Völkern brachte im Laufe der Geschichte zwar „Selbstsicherheit“, aber auch die Unterschätzung von Entwicklungen mit sich. Das Bild der Muslime von Kreuzfahrern prägte Jahrhunderte lang das Bewusstsein der Muslime von Europa. Erst als Napoleon mit seinen modernen Truppen 1798 in Ägypten einmarschierte, merkte der Orient, wie sehr sich Europa verändert hat.

 

Zweite islamischer Angriff auf Europa

Zwar ging der Islam in Gestalt des osmanischen Reiches (1299-1923) noch einmal (getrieben vom Expansionsgeist) wieder in die Offensive und schuf einen neuen Staat mit einer festen türkischen Identität. Während der osmanischen Herrschaft wurde die meiste Kraft in territoriale Expansionen  ohne inneren Wandel investiert. Erst 1839 versuchte Sultan Abdul Mejid mit Reformen zu beginnen; es war aber zu spät.

Nach der Eroberung des ost-christlichen Zentrums Konstantinopel (1453) zitterte Europa 200 Jahre vor der türkisch-islamischer Gefahr. Dies ist wohl aus dem kollektiven Bewusstsein der Europäer nicht weg zu radieren. Mit den zwei Niederlagen vor den Toren Wiens (1529 und 1683) ging eins für allemal die islamische Expansionskraft zu Ende. Diese waren die letzten Versuche an die urislamischen Prinzipien von Macht, Unterwerfung, Eroberung und göttliche Legitimation der politischen Macht anzuknüpfen. Die europäischen „Ungläubigen“ wurden durch diese Angriffe nicht geschwächt,  sondern wachgerüttelt. denn sie hatten inzwischen neue Wege entdeckt:  Das klassische Interesse am Orient (Palästina und Konstantinopel) war durch Hinwendung zum Westen ersetzt.

 

Europa expandiert nach Westen

So fanden auch die Aufrufe des Papstes zu einem neuen Kreuzzug zur Befreiung von Konstantinopel kaum Beachtung. „Im Osten nichts Neues!“ könnte die Parole der Europäer in ihrer Expansion nach Westen gewesen sein. In dieser Richtung gelangen Europäer leichter nach Indien und umgingen die hohen osmanischen Zölle. Die Portugiesen erreichten 1470 den Äquator und 1487-88 mit Bartolomeu Diaz den Kap der Guten Hoffnung.  Die Kolonialisierung Asiens und Teile der islamischen Welt begann mit der Entdeckung dieses  Seeweges (1497-98) durch Vasco da Gama.  Für Europa war wohl die Reconquista (endgültige Vertreibung der Mauern aus Spanien 1492) und die Entdeckung Amerikas  im gleichen Jahr wichtiger, als der Verlust von Konstantinopel, die ohnehin nicht zum lateinischen Europa gehörte. Mit der Vertreibung der Muslime aus Spanien begann im christlichen Europa der Wille, im Alleingang und ohne islamischen Einfluss eine eigene aggressive Politik zu  betreiben.

Die immer wieder in neuen Variationen gestellte Frage, warum sich Europa und Christentum entwickelten, aber der Islam unterentwickelt bleibt, beantwortet sich ist falsch und ahistorisch gestellt. Es entwickelten sich nicht Europa und Christentum als Gesamtheit, sondern es kam nur in einem bestimmten Teil Europas zu dieser Entwicklung.

In Analogie dazu sprechen wir von Mesopotamien als Wiege der Zivilisation, aber nicht von Asien. In Norditalien und Rhein-Anrainer-Ländern (nicht in Süd- Nord- und Osteuropa) kam es zu einer langsamen evolutionären Umwälzung. Der Geist des Kapitalismus entwickelte sich nicht in Athen und Rom, sondern später weit weg in Manchester. Die Moderne war nicht ein Ereignis, sondern ein langwieriger Prozess, begleitet von vielen Rückschlägen. Auch die Unterentwicklung der Muslime war klein plötzlicher Betriebsunfall, sondern das logische Ergebnis eines über Jahrhunderte gelaufenen Prozesses. Nicht die islamische wurde schlechter, sondern Europa wurde besser.  Auch andere alte große Zivilisationen der damaligen Zeit (wie Ägypten, China und Indien, und sogar Griechenland als Wiege der europäischen Zivilisation) verpassten den Anschluss.

 

Islamische Stagnation und europäische Expansion

Das Problem der islamischen Stagnation beschäftigt seit eh und je die Muslime. Man hat den mongolischen Ansturm, die europäische Kolonialpolitik und die „Ausbeutung“ durch den Westen dafür verantwortlich gemacht. Es ist aber historisch falsch, die Zurückgebliebenheit der islamischen Welt und die Entwicklung Europas als zwei Seiten einer Medaille zu sehen.

Es kam einfach nur in Teilen Europas zu einer Konstellation von geistigen und materiellen Bedingungen, die sich gegenseitig verstärkten:

Die gescheiterten im Namen der Religion und unter Führung der Päpste geführten Kreuzzüge beschädigten die religiöse Seele Europas. Mit „Gott will“ kann die Welt nicht verändert werden. 

Der schwarze Tod (die Pest, 1347-1353) mit 25 Millionen Opfern, erschütterte  weiter den Glauben und zeigte, dass der Mensch als „einsames“ Wesen sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss.

Das Bildungswesen entwickelte sich langsam aber ohne Unterbrechung:  Universitäten (Bologna 1088, Paris 1231) und Buchdruck (1450) führten zur Vervielfältigung des Wissens. Antike Schriften, die aus dem arabischen beziehungsweise byzantinischen Bereich nach Westeuropa gelangten ermöglichten den weiteren Zugang zum Wissen.

 Während die islamische Wissenschaftstradition in der ihrer Blütezeit in kleinen Nischen und Zirkeln stehen blieb, wurden in Europa  Wissenschaft und Lehre allmählich verallgemeinert. Gingen die Muslime über  Aristoteles nicht hinaus, so wurde in Europa in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften die Zeit nach Aristoteles eingeleitet.

Der Mensch rückte immer weiter in den Mittelpunkt. Der Kern der Renaissance war die Verdrängung des Himmels zugunsten des Menschen und dessen Freiheit. Die Säkularisierung des Himmels (Kopernikus und Galilei) ging der Säkularisierung der Erde voraus.

Repräsentativ für den europäischen Durchbruch sind wohl diese mit einander im Einklag stehenden Ereignisse: Buchdruck (Beginn der Automatisierung des Wissens), Reconquista und Erlangung eines großen Selbstbewusstseins durch Vertreibung der Mauren aus Spanien (Alleinherrschaft der Christenheit),  Entdeckung Amerikas (als Beginn der Weltherrschaft), die Reformation (als Rebellion gegen verkrustete religiöse Verhältnisse) und die Hinwendung zu Naturwissenschaften. Gutenberg, Christoph Columbus, Martin Luther und Galilei repräsentieren eine neue evolutionäre Bewegung, die sich bis heute fortgesetzt hat. Hinzu kam mit der Renaissance sehr langsam die Idee der individuellen Freiheit hinzu, auch wenn es eher eine Freiheit „von“, als eine Freiheit „zu“ etwas war. Bereits 1215 wurde in England die  Magna Carta Libertatum, als Anerkennung der Macht des Adels neben dem König unterzeichnet.

 

Das Leben wird in Europa ökonomisiert!

Mit einem Wort kam es zu „Entfesselung und Zusammenwirken von  positiven Kräften“. Wollte man nach einer  zentralen Kraft dieser Entwicklung suchen, so finden wir es in der Ökonomisierung des gesamten Lebens.  Der abstrakte Sinn von Wissenschaft und Philosophie, Entdeckungen und Erfindungen, Innovation und Naturwissenschaft wurde erstmals durch deren Funktionalität für ökonomischen Erfolg und materiellen Nutzen definiert. Gewinnorientierung wurde zu einem Motor der Wissenschaft, die allmählich ihren „metaphysischen“ Wert als menschliche Tugend verlor.  Gerade zu dieser Verbindung (zwischen Ökonomie einerseits und  Wissenschaft  andererseits) kam es  in der islamischen Welt (und auch anderswo) nicht. Wissenschaft blieb in der islamischen Welt etwas Heiliges, eine Gabe Gottes, ein Mittel zur Erforschung des universellen Geistes, eine menschliche Tugend, die nicht mit irdischen Absichten verschmutzt werden sollte. Auch fehlte es im Orient an politischen Kräften zur Durchsetzung von Innovation: Die osmanischen Sutane waren an europäischen Waffen interessiert,  und nicht an wissenschaftlich-technischen Errungenschaften als Mittel für wirtschaftlich-sozialen Wandel. Den Buchdruck mit beweglichen Lettern hatte Bayezid II. zum Beispiel 1483 bei Todesstrafe verboten. Lange vor der Konstruktion der ersten Dampfturbine in Europa gab es nach Tamim Ansary eine solche im osmanischen Reich. Sie wurde erfunden, um beim Festakt eines Reichen einen Drehspieß anzutreiben, und ein Schaf von allen Seiten gleichmäßig knusprig braun zu grillen. Nach Festakt fand man dafür keine Verwendung mehr. (Der Islam, SPEGEL Buch, 2011, Seite 147) Sultan Murad III ließ auf Rat seines Obermuftis das Istanbuler Observatorium des Universalgelehrten Takj al-Din 1580 von einer Reiterschwadron zerstören. (ebda, Seite 148)

 Nicht nur „geistige“ und „ökonomische“  Entwicklung gingen eine feste Partnerschaft ein, sondern es kam auch zu einer funktionalen Bindung zwischen „äußerer Expansion“ und „innerer Entfaltung“, die bis heute den Kern der „Moderne“ prägen. Während die Muslime  bei ihren beiden Expansionen auf „innere und äußere Machtausübung und Unterwerfung“ setzten, sah Europa die territoriale Ausweitung im Dienste der Wirtschaft  und innerer Dynamik. Kolonialisierung war kein Wert an sich, sondern ein Weg für die Vermehrung des Reichtums und Wachstums durch Plünderung fremder Völker. Die islamischen Expansionswellen und „Revolutionskriege“ unterscheiden sich also vom europäischen Ausweisungsdrang durch das Fehlen einer „innergesellschaftlichen Dynamik“. Sie stehen in der Tradition der Mongolen, Hunnen, Saljughen und Türken, die nicht vom inneren gesellschaftlichen Wandel, sondern von Welteroberungsdrang ohne wirtschaftliche Effizienzziele begleitet waren.  Die Muslime befriedigten ihren materiellen Interessen im klassischen Sinne durch  Kriegsbeute und Gefangennahme, aber nicht durch Ausbeutung von Bodenschätzen zur Entwicklung der eigenen Wirtschaft.

 Im späten Mittelalter wurden schon die Grundlagen für spätere industrielle Revolution gelegt, während der Orient auch dem Verhalten nach über die Schwelle der Agrarwirtschaft nicht hinaus kam: Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen Industrie und Landwirtschaft ist, dass die Landwirtschaft sich kreisförmig um die gleiche Achse bewegt (Wiederholung der landwirtschaftlichen Produktion) und höchstens die Produktion im nächsten Jahr erhöht, aber nicht das Produkt verändert. Die industrielle Ordnung entwickelt sich linear mit progressivem Tempo unter Heranziehung immer neuer Methoden und Produkte. Während man in der islamischen Welt (und nicht nur hier) nach „agrarischer“ Kultur das Wissen und die Technik nach dem „Additions- und Multiplikationsverfahren“ anging, begann der Westen nach Erfordernissen der „industriellen Kultur“ mit „Potenzrechnung“.

 Wurde in die  „Produktion“ (Überschusserzeugung und Akkumulation des Kapitals) im Westen zum wirtschaftlichen Ziel, so produzierte der Orient für den „Konsum“.

 Damit kam es zu zwei verschiedenen Einstellungen zur „Arbeit“: die produktionsorientierte Arbeit geht über die Konsumbedürfnisse hinaus und bekommt einen Eigenwert, als Schöpfungs- und Schaffungskraft, und wird zu einer eigenständigen ethischen Norm. Dagegen will  die  konsumorientierte Arbeit  so viel  produzieren, wie der Mensch braucht. Dieses Arbeitsethos wurde auch durch die protestantische Ethik gefördert und legitimiert.

 Das städtische Leben entfaltete in Europa eine Eigendynamik im Sinne der wirtschaftlich-kulturellen Entwicklung und eines selbstbewussten und relative von der politischen Macht unabhängigen kaufmännischen Bürgertums,  während islamische Städte (von bekannten Ausnahmen abgesehen) große Dörfer blieben:  Die europäische Stadt hat seit Spätmittelalter 4 dynamische Zentren: Kirche, Universität, Theater, Bank und Börsen und meistens einem Hafen. Die orientalischen Städte hatten drei  statische Zentren: Moschee, Palast und Bazar, wobei alle diese Zentren von einer politischen Macht kontrolliert wurden.

 

Europa gibt den Ton an!

Diese Entwicklungen im Westen sind die Wurzel aller späteren Wandlungen: Seitdem wird die Welt von einem aggressiven Entdeckungsgeist, Hegemonie der westlich-industriellen Kultur  und kapitalistischem Unterwerfungsgeist beherrscht. Die Ökonomie im Sinne der Effizienz  und Rentabilität bündelt, steuert und selektiert das soziale, politische und kulturelle Leben der Gesellschaft.  Es bleibt die Frage, ob die in Europa gestellten Weichen aus heutiger Sicht der beste Grundstein für das menschliche Glück gewesen sind. Es fragt sich, in welche Richtung dieses Modell der gesellschaftlichen Organisation gehen wird? Auch die Frage ist erlaubt, ob das „Imperiums des Kapitals“ und die Herrschaft der Industrie eine Zukunft haben? Die Geschichte hat gezeigt, dass kein Imperium länger als 250 Jahre am Leben gewesen ist!

Das osmanische Reich als das letzte Bollwerk der islamischen Hegemonie wurde nach dem ersten Weltkrieg zerstückelt. Obwohl allein die Europäer für diesen Krieg verantwortlich waren, mussten Muslime bis heute die tragischen Resultate dieses Krieges alleine tragen. Auch wenn man den Kolonialismus des alten Stils nicht allein für die Unterentwicklung der islamischen Welt verantwortlich machen kann, so ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die heutige schiefe Architektur der islamischen Welt auf westliche imperiale Interessen des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgeht.

Als ein Beispiel und Wurzel allen Übels ist der britische Verrat an der arabischen Welt gegen Ende des ersten Weltkrieges zu sehen: Um eine eventuelle arabische Unterstützung für den Kriegsgegner, das osmanische Reich zu verhindern, versprach England den Arabern einen eigenen Staat von Syrien bis Jemen und nutzte die Mobilisierung arabischer Kräfte gegen die Osmanen. Heimlich hatten aber England und Frankreich im Sykes-Picot-Abkommen schon am 16. Mai 1916 den Nahen Osten unter sich aufgeteilt. Auch die „Balfour Deklaration“ über die Errichtung einer „nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk“ war geheim gehalten worden. Erst Lenin ließ das Sykes-Picot-Abkommen im November 1917 veröffentlichen, was zu einer Verärgerung der arabischen Welt führte. Die ungelöste Nah-Ost-Frage, welche Konflikte, islamischen Terrorismus und israelischen Staatsterror mit sich gebracht hat, ist ein Resultat dieser Architektur.

Im 20. Jahrhundert kam es aber in der islamischen Welt zu einem neuen Erwachen aus dem islamischen Mittelader, das sich mit der europäischen Neuzeit deckt, während das europäische Mittelader mit der islamischen Renaissance (Blütezeit des Islam)  einherging.

 

Die Suche der Muslime nach Modernität, Unabhängigkeit und Freiheit

In diesem neuen Erwachen hatte und hat die islamische Welt mit drei Hauptproblemen zu kämpfen: Modernität, Unabhängigkeit und Freiheit. Diese sind gegenüber den klassischen Zielen der mohammadanischen Revolution neue Herausforderungen. Der klassische Islam kannte nicht das Gefühl des Beherrschtwerdens, sondern war selbst Inbegriff der Herrschaft. Die islamischen Regime der Neuzeit konnten nie diese drei Ziele zusammen verwirklichen. Die „modernen“ westlich und auch sozialistisch orientierten Staaten, strebten die Modernität an, aber dabei wurden Unabhängigkeit und Freiheit vernachlässigt.  Die Islamischen Republiken und islamischen Regime (auch die Taliban) legten den großen Wert auf eine falsch verstandene zivilisationsfeindliche aber identitätsstiftende  „Unabhängigkeit“ und vernachlässigten die Modernität und Freiheit.

Die neue Bewegung in der islamischen Welt verlangt nun alle drei Ziele zusammen, vor allem Freiheit, welche unter allen vorangegangen Regimen auf der Strecke blieb.

Dies ist der Wunsch der großen Mehrheit in der islamischen Welt. Nur eine Minderheit will zu den klassischen Revolutionszielen des Islam zurückgehen. Auch diese Tendenz gehört zu Etappen der islamischen Neuorientierung.  Es ist ein fehlgeleiteter verspäteter antikolonialer Widerstand mit grausamen Mitteln zur Verteidigung einer falsch verstandenen Identität nach den Demütigungen durch den Westen.

Die Fundamentalisten spekulieren nur auf einen Niedergang des Westens, während der Westen mit seiner Arroganz und Überheblichkeit sich (entgegen aller historischen Erfahrungen) dem Bestand seines Imperiums sicher ist und den Fundamentalisten immer wieder neue Anlässe liefert.

Betrachtet man den Islam in seiner geschichtlichen Dimension, so werden zwei Elemente sichtbar, die nur in einer Anfangsphase der islamischen Geschichte miteinander vereinbar waren: Tradition und revolutionäre Expansion.  Die Tradition war einst der Motor der Umwälzungen, wurde aber im Laufe der Geschichte zu einem Klotz am Bein. Man kann sich heute nicht einfach davon trennen, ohne dass man den Koran und Tradition grundlegend neu zu verstehen beginnt. So bleibt der Islam in einem Spannungsfeld zwischen permanenter Revolution und traditioneller Stagnation.

Muslime können eine Zukunft haben, wenn sie ihre Religion „reformieren“: Zurück zu den echten, unverfälschten Ursprüngen, zurück zur dynamischen und weltzugewandten Tradition Mohammads und nicht zu seiner Zeit. Er hatte eine gerechte Gesellschaftsordnung im Sinne, mit Geschick, Verstand, Flexibilität und Zweckorientierung.

Eine echte Reform in der islamischen Theologie und Rechtsprechung kann nur geschehen, wenn die ursprüngliche irdische, säkulare Tradition Mohammads wieder lebendig wird. Dazu gehört vor allem der dynamische, veränderbare Charakter der Gesetze. Es gibt keinen Nachweis darüber, dass Mohammad je eine Entscheidung aufgrund eines überirdischen, göttlichen Dogmas getroffen hätte. Er handelte stets nach real existierenden vorgegebenen Verhältnissen.

Islam war ca. 1200 Jahre lang direkter europäischer Nachbar des Christentums. Dauerte der letzte Ost-Westkonflikt in Europa nur 40 Jahre, so war der islamisch-christliche Konflikt auf europäischem Boden von  711 bis zum Ende des 1. Weltkrieges.  Islam und Christentum können diese lange Phase der Nachbarschaft aus ihrem Bewusstsein nicht weg radieren. Islam gehört historisch zu Europa und beeinflusste immer wieder die europäische Entwicklung. Die Muslime waren unter Osmanen untrennbarer Bestandteil der europäischen Politik, lange bevor Russland und Osteuropa an Einfluss und Bedeutung gewannen.

Die heutigen Konflikte zwischen beiden Kulturen waren vorprogrammiert. Europa hat zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen, an deren Entstehung, Verlauf und Ergebnissen die islamische Welt keinen Beitrag gehabt hat. Diese Kriege ordneten die heutige Architektur der Welt. Diese Architektur wurde in Europa vor 20 Jahren revidiert, weil sie nicht mehr zeitgemäß  war. Muslime müssen aber mit dieser  Architektur, die auf   Hegemonialinteresse des Westens angeschnitten ist, weiter leben.

Eine kleine Minderheit versucht nun diese Identität in eine Rückkehr zu  islamischer Revolutionstradition zurückzugewinnen. Eine andere Minderheit, von der die Welt wenig Notiz nimmt (zu ihnen zählt sich auch der Verfasser) entdeckt in den Ursprüngen des Islam nicht nur Gewalt und starre Tradition, sondern Wandel und Anpassung im Sinne der Schaffung einer neuen Ordnung mit geistiger Anstrengung. Die Muslime befinden sich heute wieder in einer mekkanischen Zeit: Es ist die Zeit der Aufklärung und Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Zivilisationen. Der Westen und der Islam können sich nicht mehr militärisch besiegen, was bleibt ist das gemeinsame Ringen um den Weltfrieden und die Zukunft.

 

 

 

 

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