Wenn man in meiner Studentenzeit einen Diskussionspartner schwer beleidigen wollte, sagte man ihm: „Deine Argumente sind ahistorisch!“, was nichts anderes bedeutete, als „unwissenschaftlich“. Heute aber urteilt und argumentiert man selbstverständlich ohne historische Betrachtung.
Zu den Opfern dieser Denkweise gehört der Begriff „Gottesstaat“.
Will man einmal von der Diskussion der griechischen Philosophen über „Theokratie“ absehen, so kommt der Begriff „Gottesstaat“ zum ersten Mal beim Kirchenvater Augustinus (354-430 n. Ch) in seinem Spätwerk „Vom Gottesstaat“ (De civitate dei) vor. Auch wenn es nicht seine Absicht war, wurde diese Idee für Rechtfertigung der „Priesterherrschaft“ des Mittelalters herangezogen.
Sogar in der Reformation wollte Thomas Müntzer als Feldprediger die Bauern für einen Gottesstaat begeistern und sah sich in der Tradition der alttestamentlichen Propheten.
Im Islam endete der zehnjährige reine „Gottesstaat“ mit dem Tode des Propheten Mohammad (632 n. Ch) Es folgte die Herrschaft der vier Khalifen (632-661), deren Legitimation bis heute unter Schiiten und Sunniten ein Streitthema ist. Bereits nach der Ermordung des dritten Khalifen Osman (656 n. Ch.) verselbstständigte sich die weltliche politische Macht durch den Statthalter von Damaskus Moawija, der nach weltlichen königlichen Traditionen die Omaijadendynastie (661-750) gründete. Damit wurde bereits 30 Jahre nach Mohammad der Grundstein für die Trennung zwischen weltlicher und religiöser Herrschaft gelegt.
Die meisten muslimischen Theologen (von kleinen Abspaltungen abgesehen) handelten in der darauf folgenden Zeit nach dem Prinzip, daß der weltliche Herrscher legitimiert ist, wenn er bestimmte Tugenden (Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit) besitzt und nicht gegen islamische Prinzipien handelt. Religiöse und weltliche Herrscher arrangierten sich in den meisten Perioden der islamischen Geschichte nach einem unbeschriebenen Prinzip der friedlichen Koexistenz miteinander. Häufig begnügte sich die islamische Geistlichkeit, die im Gegensatz zum Christentum dezentral organisiert war, mit einer „Ermahnung“ der politischen Herrschaft, wenn der König vom rechten Weg abwich. Die Herrscher waren anderseits auf die Geistlichkeit angewiesen, wenn es um Fetwas für Kriege und Eroberungen ging. Die schiitischen Safawiden im Iran (1501-1722) und deren sunnitisch-osmanischen Rivalen handelten nach dem gleichen Prinzip.
Dr. Hadi Resasade